Tennis / Ein „normaler Junge“? Sinner nach US-Open-Titel im Zwiespalt
Jannik Sinner untermauert trotz Doping-Wirbel seine Vormachtstellung an der Spitze der Tennis-Welt – und widmet den US-Open-Titel einer ganz bestimmten Person.
Jannik Sinner küsste sinnlich die US-Open-Trophäe, posierte für ein Siegerfoto mit Freundin Anna Kalinskaja und verschwand nach einem Interview-Marathon schließlich sichtlich erleichtert in die New Yorker Partynacht. Nach seinem hochverdienten Titelgewinn in Flushing Meadows war dem italienischen Tennisstar eine gewisse Befreiung anzumerken – auch, wenn viele Fragen rund um seinen aufsehenerregenden Dopingfall bleiben.
„Es war schwierig, die Umstände vor dem Turnier waren nicht leicht“, gab der Weltranglistenerste zu, die zwei positiven Dopingtests im März inklusive Freispruch hatten die Tennis-Welt nur wenige Tage vor dem letzten Grand Slam des Jahres erschüttert. Die Thematik sei „weiterhin“ in seinem Kopf, auch wenn er bei seinem Titellauf in New York „von Spiel zu Spiel gewachsen“ sei, sagte Sinner.
Die italienische Presse feierte ihren Volkshelden gewohnt überschwänglich, vom „Tenniskönig“, einem „Juwel“ und einem „normalen Jungen, der so einfach ist, wie der Freund von nebenan“, schrieb die Gazzetta dello Sport. Die positiven Tests auf das Steroid Clostebol, die vor der Öffentlichkeit monatelang verschwiegen wurden und nach Darlegung von Sinner durch eine Kontamination durch seinen Physiotherapeuten zustande kamen, werden im selben Artikel nur kurz angerissen. Das Thema könnte nochmal an Fahrt aufnehmen, sollte sich die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) zu einem Einspruch vor dem Internationalen Sportgerichtshof (CAS) entscheiden.
Machtdemonstration im Finale
Die Tenniswelt hielt sich mit lauter Kritik an Sinner in den zwei Wochen von New York größtenteils zurück. „Ich denke, wir alle vertrauen so ziemlich darauf, dass Jannik nichts getan hat“, sagte Roger Federer vor wenigen Tage, fügte aber an: „Die mögliche Unstimmigkeit, dass er nicht aussetzen musste, während sie nicht zu 100 Prozent sicher waren, was los ist – ich denke, diese Frage muss beantwortet werden.“
Die Frage blieb bis jetzt unbeantwortet, und so durfte Sinner in der US-Metropole aufschlagen – und konnte das Turnier acht Monate nach seinem Australian-Open-Triumph dominieren, wie es nur wenige vor ihm getan hatten. Nur zwei Sätze gab er in den zwei Wochen in Flushing Meadows ab, der 6:3, 6:4, 7:5-Finalerfolg gegen Lokalmatador Taylor Fritz am Sonntag kam einer Machtdemonstration gleich. Und so „normal“ wie der immer noch erst 23 Jahre alte Athlet mit den rotblonden Wuschelhaaren nun mal ist, dachte er im Moment seines großen Triumphs zuerst an seine kranke Tante.
„Das wirkliche Leben“ sei etwas anderes als der Sport, zeigte sich Sinner wenige Stunden nach seinem zweiten Grand-Slam-Triumph nachdenklich: „Wir reisen viel, deshalb ist es ist schwierig, Zeit mit den Menschen zu verbringen, die man wirklich liebt. Ja, es war und ist auch jetzt ein wirklich schwieriger Moment.“ Im Siegerinterview auf dem Court hatte er öffentlich gemacht, dass es seiner Tante nicht gut gehe: „Ich weiß nicht, wie lange ich sie noch in meinem Leben habe. Es ist schön, dass ich einen positiven Moment mit ihr teilen kann.“
Und so verließ Sinner, der gemeinsam mit dem Spanier Carlos Alcaraz die Zukunft des Sports prägen dürfte und der Generation von Novak Djokovic vorerst ein Stück enteilt ist, den Big Apple trotz US-Open-Titel nur wenig euphorisch. Sportlich aber, daran ließ er trotz aller lauten Nebengeräusche in New York keinen Zweifel, steht er zu Recht an der Spitze der Tenniswelt. (SID)
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