Karriereplanung / Erst Olympia, dann der Frust: Über den sensiblen Übergang vom Spitzensport in die Arbeitswelt
Sportler arbeiten jahrelang auf Olympische Spiele oder andere Highlights hin, bringen dafür zahlreiche Opfer und richten ihr komplettes Leben danach aus. Doch wie sieht es nach Olympia aus, wenn sich die Karriere dem Ende entgegenneigt? Der Übergang in die „normale“ Arbeitswelt ist eine äußerst sensible Phase, die schon mal mit Frust und Enttäuschung einhergeht.
Der 15. Februar 2021 war kein normaler Montag für Raphaël Stacchiotti. An dem Tag hat der Schwimmer seine Arbeit als Sportkoordinator in der Gemeinde Bissen aufgenommen und somit einen neuen Lebensabschnitt begonnen. Der 28-Jährige will seine Sportler-Karriere nach den Olympischen Spielen im Sommer beenden und hat deshalb schon vorgesorgt. „Es war mir immer bewusst, dass es ein Leben nach dem Sport gibt. Ich habe zuletzt auch aktiv nach einer Arbeit gesucht, was wohl auch der Grund war, wieso mich der Bissener Bürgermeister auf die Stelle des Sportkoordinators angesprochen hat.“ So optimal lief der Übergang vom Hochleistungssport in die Arbeitswelt allerdings nicht bei jedem Athleten. Bei dem einen oder anderen scheint der Frust sogar ziemlich tief zu sitzen. Nicht jeder wollte sich auf Tageblatt-Anfrage zu dem Thema äußern.
Ich habe schon früh während meiner Laufbahn erkannt, dass ich auf mich allein gestellt binehemaliger Tennisprofi
Frust machte sich bei Marie Muller zwar nicht direkt breit, aber eine gewisse Enttäuschung kann die ehemalige Judoka, die bei Olympia 2012 nur knapp an einer Medaille vorbeischrammte, nicht verbergen. „Ich habe vielleicht zu sehr auf andere Leute gehört. Viele haben mir gesagt, dass ich mich auf sie verlassen könnte, wenn meine Karriere einmal zu Ende gehen würde. Doch als es dann so weit war, stand ich alleine da.“ Die 35-Jährige, die mittlerweile in der Coque arbeitet, musste aufgrund von anhaltenden Verletzungen mit dem Hochleistungssport aufhören. Einen richtigen Plan hatte sie deshalb nicht.
Den hatte auch der ehemalige Tennisprofi Gilles Muller nicht. Frust oder Enttäuschung kam bei ihm nicht auf. „Ich habe schon früh während meiner Laufbahn erkannt, dass ich auf mich allein gestellt bin. Ich habe meine Karriere selbst geplant und durchgezogen. Ich wusste, dass ich nach meiner Karriere auf mich allein gestellt sein würde. Ich hatte also keine großen Erwartungen.“ Der 37-Jährige kann die Enttäuschung anderer Sportler aber nachvollziehen. Letztendlich gehe es um den Stellenwert, den man dem Hochleistungssport und seinen Protagonisten beimesse, sagt Muller.
Einen Arbeitsplatz nur aufgrund ihrer sportlichen Verdienste will keiner von ihnen. Das ist den drei Olympioniken wichtig zu betonen. Es geht ihnen vielmehr darum, nach dem Sport eine Perspektive zu haben. „Selbstverständlich muss ein ehemaliger Sportler genauso Leistung am Arbeitsplatz bringen wie andere auch“, sagt Muller. Athleten würden immerhin das Land vertreten und Werbung für Luxemburg betreiben. „Bei Erfolgen drängen sich viele auf die Siegerfotos, was man als Sportler auch zu schätzen weiß. Aber es ist nur fair, dass einem für die Zeit nach der Karriere Möglichkeiten geschaffen werden“, so der ehemalige Tennisprofi.
Stacchiotti ist mit 28 Jahren etwas jünger als die beiden Mullers. „Ich denke, dass zu meiner Zeit im Jugendbereich bereits größerer Wert auf die duale Karriere gelegt wurde. Aber ich bin auch der Meinung, dass man in diesem Bereich nie genug machen kann. Es ist ein wichtiger Eckpfeiler für die Entwicklung des Leistungssports in Luxemburg.“
Eine Frage der Leidenschaft
Der Übergang vom Hochleistungssport in die Arbeitswelt ist eine sehr sensible Phase im Leben eines Athleten. Das weiß Laurent Carnol. Der ehemalige Schwimmer ist beim „Luxembourg Institute for High Performance in Sports“ (LIHPS) seit einigen Jahren zuständig für die duale Karriere. Der diplomierte Chemiker soll den Athleten dabei helfen, die Karriere nach dem Sport zu planen und sie bereits früh für das Thema zu sensibilisieren. Der Übergang in die „normale“ Arbeitswelt kann gleich aus mehreren Gründen problematisch sein. „Als Hochleistungssportler hat man seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Dass man die gleiche Leidenschaft für eine andere Arbeitsstelle hat, ist eher unwahrscheinlich.“ Sogar wenn die neue Arbeit einem ehemaligen Athleten Spaß macht, sei es meistens nicht die gleiche intensive Bindung, die er zu seinem Sport hatte. Außerdem gehören Hochleistungssportler in ihrer jeweiligen Disziplin zu den Besten, ob auf nationaler oder internationaler Ebene. „Auch das ist später bei der Arbeit nicht unbedingt der Fall und kann vor allem zu Beginn zu Frustrationen führen“, sagt Carnol.
Der Schlüsselfaktor sei eine frühe Sensibilisierung für das Thema. Die allerwenigsten Sportler haben nach ihrer Karriere ausgesorgt. Ebensowenig wie sie bis zum Rentenalter aktiv bleiben können, Tischtennisspielerin NI Xia Lian ist da die Ausnahme. „Dessen muss man sich bewusst sein, bevor die Karriere beginnt.“
Schulabbruch
Ein Sportler muss im Grunde zwei Karrieren gleichzeitig planen. Wer sich für den Weg in den Hochleistungssport entscheide, dem stünden nachher vielleicht nicht mehr alle Türen offen, aber mit dem richtigen Vorgehen immer noch sehr viele, sagt Carnol. Seine Arbeit beschränke sich nicht ausschließlich darauf, den Nachwuchstalenten bei der Wahl einer Uni zu helfen. „Ein Studium ist nicht für jeden eine Alternative. Wir müssen versuchen, auch jenen zu helfen, die eine Lehre machen wollen oder neben dem Sport bereits einer Arbeit nachgehen.“ Aber ganz gleich ob Berufsausbildung, Studium oder Arbeit, letztendlich geht es immer um das Gleiche: „Genügend Freiraum für den Sport zu schaffen, ohne sich die Perspektiven für die Zukunft zu nehmen“, resümiert Carnol. Um das zu schaffen, müsse man auch akzeptieren, dass die Ausbildung vielleicht etwas länger dauert als bei Nichtsportlern.
Ein Studium war einfach nicht das Richtige für michSchwimmer
Ein allgemeines Erfolgsrezept gibt es also nicht. Marie Muller hatte, wie Raphaël Stacchiotti, ein Studium begonnen. „Ich habe aber gemerkt, dass ich es nicht schaffen würde, Studium und Sport zu kombinieren. Da habe ich die Entscheidung getroffen, mich erst einmal auf den Sport zu konzentrieren.“ Bei Stacchiotti war es ähnlich. „Ein Studium war einfach nicht das Richtige für mich“.
Gilles Muller hat die Schule sogar vorzeitig abgebrochen, um sich auf das Tennisspielen zu konzentrieren. „Das ist ein Schritt, zu dem ich keinem raten würde, aber in meiner Situation war es damals das Richtige. Auf 5e war mein Trainingsvolumen bereits so hoch, dass es schwierig wurde, beides zu kombinieren. Mir war aber bewusst, dass ich so viel trainieren musste, wenn ich es irgendwann mal als Profi schaffen wollte.“
Eine gewisse Sicherheit
Dass die Entscheidung, die Schule abzubrechen, nicht ohne Risiko war, weiß Muller natürlich. „Meine Mutter war auch nicht begeistert von der Idee. Irgendwann war sie aber damit einverstanden, dass ich mich ein Jahr lang voll auf das Tennisspielen konzentrieren durfte.“ Trotzdem hat sich Muller Gedanken um seine Zukunft gemacht. So kam es 2008 zum Wechsel von Schifflingen zur Spora. „Die Spora hat mir zugesichert, dass ich nach meiner Karriere, in welcher Funktion auch immer, für sie arbeiten könnte.“ Ab dem Moment hat sich Muller dann ausschließlich auf seinen Sport konzentriert. Heute ist er unter anderem als „directeur sportif“ für die Spora tätig.
Wir müssen im Nachwuchsbereich das Bewusstsein für die duale Karriere fördernKoordinator für die duale Karriere
Der ehemalige Tennisspieler hatte zudem das Glück, dass er eine Sportart betrieb, bei der man – vorausgesetzt man gehört zu den Besten – recht gut verdient. „Es ist nicht so, dass ich ausgesorgt hätte, davon bin ich weit entfernt. Aber ich konnte von meinem Sport leben.“ In anderen Disziplinen ist das schwieriger. Marie Muller und Raphaël Stacchiotti waren aus dem Grund in die Sportsektion der Armee eingetreten. Es ist für viele Athleten eine gute Möglichkeit, ihren Sport auszuüben und finanziell abgesichert zu sein. Allerdings ist es jemandem, der in die Armee eintritt, nicht gestattet, nebenbei noch zu studieren. Das verbietet das Militärstatut. Wer keine spätere Karriere in der Armee anstrebt, ist also gut beraten, seine Ausbildung vor der Grundausbildung abzuschließen. Die Kriterien sollen laut aktuellem Koalitionsabkommen überarbeitet werden und für die Sportler, die nicht in die Armee eintreten wollen, soll ein dreimonatiger Zivildienst angeboten werden. Für Carnol wäre dies ein weiterer wichtiger Baustein für die duale Karriere von zahlreichen Sportlern.
Sportlerstatut würde helfen
Es gibt auf der Welt mittlerweile viele Universitäten, die es Spitzensportlern erlauben, ihrem Sport nachzugehen und gleichzeitig ein Studium zu absolvieren. „Vor allem im angelsächsischen Raum ist das weit verbreitet“, sagt Laurent Carnol, der selbst in England an der Loughbourough University studierte und gleichzeitig seine Karriere im Schwimmen fortsetzte. „Aus dem Grund zieht es viele Sportler nach England oder in die USA.“ Für den Koordinator der Dual Career beim LIHPS haben Universitäten in unserer Region da noch etwas Nachholbedarf. In seinen Augen würde es den Sport in Luxemburg voranbringen, wenn die Uni.lu über ein Sportlerstatut verfügen würde. „Das wäre schon eine Errungenschaft.“
Die Armee hat Marie Muller nicht nur bei der finanziellen Absicherung geholfen, sondern später auch dabei, Französisch zu lernen. Die Tochter des ehemaligen Direktors des Escher Theaters, Charles Muller, hat ihre Jugend in Deutschland verbracht und kam erst später für ihren Sport nach Luxemburg. Das hat den Übergang ins Berufsleben nicht gerade vereinfacht. „Allein schon wegen des Französischen war es nicht einfach. Aber auch sonst war ich nicht so in Luxemburg verwurzelt wie andere.“
Sponsoren und Sportgesetz
Raphaël Stacchiotti hat in seiner Karriere noch andere Initiativen kennengelernt, die er sich durchaus für Luxemburg vorstellen könnte. Zu seiner Zeit in Marseille hatte der Verein eine regionale Bank als Sponsor. Sie hat den Schwimmern des Vereins Tests zur Orientierung für die spätere berufliche Laufbahn angeboten und bezahlt. „Außerdem hat die Bank Weiterbildungen und Praktika für die Sportler organisiert. Und das nicht nur in der Bank, sondern bei allen möglichen Betrieben aus der Region“, erzählt Stacchiotti, der diese Form von Sponsoring als sehr interessantes Modell bezeichnet. „Einige der Athleten, mit denen ich dort geschwommen bin, haben von diesem Angebot profitiert.“
Eine Hilfestellung für Hochleistungssportler beim Übergang in die Arbeitswelt gibt das luxemburgische Sportgesetz von 2005. Erfüllt ein Hochleistungssportler die geforderten Kriterien, genießt er ein Vorzugsrecht auf Anstellungen im öffentlichen Dienst. Das gilt ausschließlich für Stellen, für die kein Staatsexamen erforderlich ist. Allerdings ist der Paragraf noch lange nicht jedem Sportler bekannt. Nach dem Wissen von Sportminister Dan Kersch wurde dieser Passus allerdings noch nie angewandt und würde sich auch ausschließlich auf aktive Elitesportler beziehen. Zudem muss der Sportler erst einmal über die nötigen Qualifikationen verfügen, bevor dieser Abschnitt in Anspruch genommen werden kann.
Interessante Eigenschaften
Sportler bringen in der Regel einige Eigenschaften mit, die für Arbeitgeber interessant sein können. Sie sind ehrgeizig, diszipliniert und belastbar. Gilles Muller fragt sich, wieso in Luxemburg nicht mehr auf die Erfahrungen und Qualitäten von ehemaligen Top-Sportlern gesetzt wird. „Wer es in einer Sportart bis in die internationale Spitze schafft, der musste viele Entbehrungen auf sich nehmen, hart arbeiten und körperlich wie mental einiges leisten. Davon kann man auch in anderen Bereichen profitieren. Manchmal habe ich allerdings das Gefühl, dass unsere Qualitäten im Ausland mehr geschätzt werden als hierzulande.“
Ich würde mich aber nicht mehr so sehr auf andere Leute verlassen. Das ist auch der Rat, den ich jungen Sportlern mit auf den Weg geben kann.ehemalige Judoka
Würde er noch einmal vor der Entscheidung stehen, würde Gilles Muller sich wieder für den Sport entscheiden, genau wie Marie Muller. „Ich würde mich aber nicht mehr so sehr auf andere Leute verlassen. Das ist auch der Rat, den ich jungen Sportlern mit auf den Weg geben kann.“ Dem kann Laurent Carnol nur beipflichten. „Wir müssen im Nachwuchsbereich das Bewusstsein für die duale Karriere fördern. Nicht nur beim Sportler, sondern auch bei den Trainern, den Eltern und dem gesamten Umfeld.“ Damit talentierte Athleten sich nicht auf einmal wegen Zukunftsängsten gegen den Sport entscheiden.
Dan Kersch: „Wichtig, bei diesem Thema voranzukommen“
Laut Koalitionsabkommen sollen die Kriterien für die Aufnahme in die Sportsektion der Armee angepasst werden, um auch Sportlern, die studieren, diesen Schritt zu ermöglichen. Die Grundausbildung der Armee müssen sie natürlich auch weiterhin absolvieren. Momentan sind ein Engagement bei der Armee und ein gleichzeitiges Studium nicht kompatibel. Zudem sieht das Koalitionsabkommen vor, einen dreimonatigen Zivildienst zu absolvieren, für diejenigen, die nicht in die Armee eintreten wollen. Wie Sportminister Dan Kersch dem Tageblatt erklärte, befinden sich diese Projekte in der Vorbereitungsphase. „Relativ zeitnah wird sich der ’Conseil supérieur’ damit beschäftigen. Es ist wichtig, dass wir bei diesem Thema vorankommen.“ Der „Conseil supérieur des sports“, in dem unter anderem Gilles Muller Mitglied ist, ist das Beratungsorgan des Sportministers. Bevor er sich mit diesem Thema beschäftigen kann, wird der „Conseil supérieur“ aber noch über die Reform des „Congé sportif“ beraten.
Für Kersch hat das Thema der finanziellen Absicherung der Elitesportler eine große Wichtigkeit. „Die Athleten leisten ja etwas für das Land, da ist es unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass es Möglichkeiten gibt, wie sie abgesichert werden können und Perspektiven für die Zeit nach ihrer Karriere haben.“ Kersch denkt dabei an die Athleten, die eine Sportart betreiben, von der man trotz herausragender Ergebnisse auf internationalem Niveau nicht leben kann. Dass die Armee dabei nicht für jeden Sportler die optimale Lösung ist, dessen ist sich der Sportminister bewusst und nennt das Beispiel Charel Grethen. Nach seinem Finanzstudium ist der Leichtathlet in die Sportsektion der Armee eingetreten, um eine gewisse finanzielle Absicherung zu haben. „Allerdings muss man bedenken, dass er bei der Armee sein Studium nicht angerechnet bekommt. Würde er dies über mehrere Jahre machen, hätte er am Ende viel weniger in die Pensionskasse einbezahlt als wenn er sich mit seinem Diplom eine Arbeitsstelle gesucht hätte.“ Mittlerweile arbeitet Grethen beim Staat und ist zur Hälfte freigestellt, um sich der Leichtathletik zu widmen.
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Di Olympesch Spiller sinn dach nemmen eng Lustrees fir di masseg Sportskader an Federatio’unsbonzen !
Wieren dei‘ Milliarden net besser an Enweckelungsprojet’en angesaat ??
Stop der verschwendung vun Stei’ergelder ! Kuck iech mol un waat mat den Olympia-Installatio’unen an Griechenland ginn ass !