Reportage / Mutterglück und Olympia-Traum: Lis Rottler-Fautsch hat intensive Monate hinter sich
Olympische Spiele sind der Traum eines jeden Sportlers. Fechterin Lis Rottler-Fautsch hat diesem Ziel sehr viel untergeordnet. Mit Olympia hat es nicht geklappt. Dafür hat sie gezeigt, dass es als junge Mutter möglich ist, seinen Traum zu leben. Die 34-Jährige hat eine intensive Zeit hinter sich.
Am Ende kann Lis Rottler-Fautsch ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Degenfechterin ist gerade im Achtelfinale des Olympia-Qualifikationsturniers in Madrid ausgeschieden. Am vergangenen Samstag ist aber nicht nur der Traum von Olympia geplatzt. Für Lis Rottler-Fautsch ist das Ausscheiden gleichbedeutend mit dem Karriereende und dem Ende einer intensiven Reise. Sie hat vor gut zwei Monaten einen Sohn zur Welt gebracht und nicht nur gezeigt, wozu der menschliche Körper in kürzester Zeit fähig ist und wie man mit Familie seine Ziele im Sport sehr wohl verfolgen kann.
„Lis!“ Jérôme Pauls schnalzt zweimal mit der Zunge, schon weiß Lis Rottler-Fautsch Bescheid: „Fehlt die Spannung im Rumpfbereich?“ „Nein, nein, du machst das super. Denk weiter daran, die Spannung zu halten.“ Es ist gegen Ende des Krafttrainings in der Coque und Jérôme Pauls vom „Luxembourg Institute for High Performance in Sports“ (LIHPS) weiß, dass mit der Erschöpfung auch gerne die Konzentration nachlässt. Meistens hat er mit Sportlern zu tun, die sich nach einer Verletzung zurückkämpfen. Mit Lis Rottler-Fautsch und der Tennisspielerin Mandy Minella betreut er zwei Athletinnen, die ihre Karrieren nach Schwangerschaften fortsetzen wollen.
„Knackiger“ Zeitplan
Es ist der 7. April, Sohn Tim kam vor genau zwei Monaten zur Welt. Der Mutter bleiben noch zweieinhalb Wochen bis zum Qualifikationsturnier in Madrid. „Knackig“, so beschreibt die 34-Jährige den engen Zeitplan immer wieder. Die Schweißperlen stehen ihr auf der Stirn. Jérôme Pauls bezeichnet das Unterfangen als „Reise, bei der man nicht wirklich weiß, wo sie hinführt“. Eine Olympia-Qualifikation gut zwei Monate nach einer Geburt hätten viele für unmöglich gehalten. Der ausgebildete Physiotherapeut ist nicht ohne Bewunderung für seine Sportlerin. Körperlich in so kurzer Zeit wieder in Form zu kommen sei das eine, aber zugleich das ganze Privatleben zu koordinieren, das sich erst vor zwei Monaten radikal geändert hat, sei eine enorme Leistung.
Wie „knackig“ es am Ende sein würde, hatte auch Lis Rottler-Fautsch etwas unterschätzt. Dreimal die Woche Fitness- und Krafttraining in der Coque, dann zwei bis drei Fechtstunden mit ihrem Fechtmeister, dann noch zweimal normales Fechttraining im Verein und einmal die Woche zum Beckenbodentraining. Alle zwei Wochen steht zusätzlich noch Mentaltraining beim Sportpsychologen des LIHPS auf dem Plan. Hinzu kommen kurze Nächte und ein immer wiederkehrendes schlechtes Gewissen. „Das habe ich jedes Mal, wenn ich Tim alleine lasse. Er ist natürlich meine absolute Priorität und jedes Mal, wenn ich zum Training fahre, frage ich mich, ob ich gerade das Richtige tue.“
Das schlechte Gewissen
Eine Frage, die Danielle Rinnen – selbst Mutter – mit Ja beantwortet. Sie ist Kinesitherapeutin im „Centre hospitalier du Luxembourg“ (CHL), hat sich unter anderem auf Schwangerschaften spezialisiert und betreut Lis Rottler-Fautsch. Eine Frau so kurz nach der Geburt wieder fit zu bekommen, sei aus beruflicher Sicht interessant. Ihre eigentliche Motivation ist allerdings eine andere. „Ich finde es unglaublich spannend, eine junge Mutter dabei zu unterstützen, wie sie ihren Traum lebt.“ Hier komme ihre feministische Ader zum Vorschein. „Viele Menschen können sich nicht vorstellen, welch große Entscheidung Lis treffen musste. Heute bekommen Mütter, die sich selbst verwirklichen wollen, immer noch regelmäßig von ihrem Umfeld ein schlechtes Gewissen gemacht.“ Negative Erfahrungen aus ihrem Umfeld bleiben Lis Rottler-Fautsch erspart. „Die meisten wundern sich einfach, dass das überhaupt möglich ist“, so die Fechterin.
Für Ehemann Michael Rottler war es selbstverständlich, dass er seine Frau unterstützen wird. „Den Traum von Olympia hat Lis schon so lange, sie muss es einfach versuchen.“ Er übergibt der Mutter den kleinen Tim und nimmt am Esstisch Platz. Michael Rottler hat sich Elternzeit genommen. Olympia war bereits ein Thema, als Lis und Michael sich 2008 an der Uni in Wien kennenlernten. „Gleich beim ersten Treffen erklärte sie mir, dass sie am Wochenende keine Zeit habe. Bereits damals musste sie zu einem Qualifikationsturnier für Olympia in Peking“, erinnert sich Michael Rottler.
Es war der Beginn der Fecht-Karriere von Lis Fautsch. Anschließend ging sie nach Heidenheim, um unter professionellen Bedingungen zu trainieren. Michael Rottler ging mit. Die Luxemburgerin machte in den Jahren in Heidenheim einen enormen Leistungssprung. Der absolute Paukenschlag gelang ihr bei der Weltmeisterschaft 2019 mit Platz sieben. Damit war Olympia so nah und doch irgendwie so fern, was vor allem an den Qualifikationskriterien liegt. „Die sind im Fechten einfach nicht fair. Das muss ich so klar sagen. Für einen Sportler aus einer kleinen Nation ist es fast unmöglich, sich zu qualifizieren“, sagt Lis Rottler-Fautsch.
Das sollte sich für Tokio ändern und war der Grund, wieso Lis Rottler-Fautsch noch einmal vier Jahre in Heidenheim angehängt hatte. Dann wurden die Qualifikationskriterien doch nicht angepasst. Es war nicht der einzige Rückschlag in den vergangenen Jahren. „Ich wollte zum Schluss meiner Karriere noch zu den European Games nach Minsk und die Europameisterschaft in Luxemburg bestreiten.“ Fechten wurde schließlich aus dem Programm der Europaspiele genommen, die EM in Luxemburg musste abgesagt werden, weil sich der Verband als Veranstalter und die Coque nicht einigen konnten. Was blieb, war der Traum von Olympia. Alles war genau geplant. Das Paar Rottler-Fautsch verlängerte bis Sommer 2020 in Heidenheim, kehrte dann nach Luxemburg zurück, wo die 34-Jährige im September ihre neue Arbeit beim Nationalen Olympischen Komitee (COSL) begann.
Kein Herz für Einzelkämpfer
Die Qualifikationskriterien für Olympia im Fechten sind für Einzelkämpfer nicht gerade von Vorteil. Sämtliche Fechter, die sich als Mannschaft qualifizieren, können auch im Einzel antreten. Zusätzlich werden noch zehn weitere Plätze pro Einzelwettbewerb vergeben. Sechs werden über die Weltrangliste vergeben (zwei für Europa und Asien-Ozeanien, jeweils einer für Afrika und Amerika). Vier weitere Plätze werden bei kontinentalen Qualifikationsturnieren vergeben, wo der jeweilige Sieger ein Olympia-Ticket bekommt.
Die Zukunft nach den Spielen von Tokio war gesichert. Dann kamen die Verlegung wegen Corona, die Schwangerschaft und die Zweifel, ob es mit dem Olympia-Traum überhaupt klappen kann. „Eigentlich kann man auch in der Schwangerschaft noch recht viel Sport treiben. Natürlich muss man auf einige Dinge achtgeben, wie zum Beispiel Stöße durch Sprünge, genau wie Stürze oder Kontaktsportarten“, erklärt Jérôme Pauls. Auch Lis Rottler-Fautsch konnte sich schnell davon überzeugen, dass die Schwangerschaft sie nicht notgedrungen um ihre Olympia-Pläne bringen würde. Sie suchte den Kontakt mit der Sporthochschule Köln, erklärte ihren Fall. „Sie sagten mir, dass es ambitioniert sei, aber wenn ich es nicht versuche, würde ich der Gelegenheit irgendwann nachtrauern.“
Abstimmung und Teamwork
Die Degenspezialistin stellte ein Konzept auf und reichte es beim COSL ein, um weiterhin Unterstützung zu bekommen. Ein ganzer Betreuerstab setzte sich zusammen, um die 34-Jährige zu unterstützen und sie trotz „knackigen“ Zeitplans noch rechtzeitig fit zu bekommen. „Es braucht viele Zahnräder, die perfekt ineinandergreifen“, sagt Sportwissenschaftler Eric Besenius vom LIHPS, der die Koordination des Projekts übernommen hat.
Neben Kinesitherapeutin, Kraft- und Ausdauertrainer, Fechtmeister und Sportwissenschaftler sitzen ein Sportpsychologe und eine Ernährungswissenschaftlerin mit am Tisch. „Im Leistungssport ist eine gute Abstimmung zwischen den einzelnen Bereichen sehr wichtig. Noch wichtiger wird sie aber, wenn der Zeitdruck groß ist“, so Eric Besenius, der in dieser Hinsicht der Athletin ein großes Lob ausspricht. „Lis hat exemplarisch mitgearbeitet. Sie ist eine sehr offene Person, das hat sicherlich geholfen. Sie hat uns immer über alles informiert, ob es sich um medizinische Angelegenheiten von ihrem Gynäkologen handelte oder um andere Informationen, die für uns relevant sind, sodass wir eigentlich keine unnötige Zeit verloren haben. Das ist nicht immer selbstverständlich. Es gibt auch Sportler, die etwas verschlossener sind, was unsere Arbeit dann etwas schwieriger macht.“
Im Kraftraum der Coque greift Lis Rottler-Fautsch zur Trinkflasche. Martin Zawieja, der „Strength and Conditioning“-Trainer, hat sein Programm mit der Fechterin abgespult. Das Training ist damit aber noch nicht vorbei. In einem Nebenraum folgt eine Einheit mit Stabilitäts- und Gleichgewichtsübungen. Neben Lis Rottler-Fautsch ist Mandy Minella dabei, ihr Trainingsprogramm zu absolvieren. Die Tennisspielerin ist vor kurzem zum zweiten Mal Mutter geworden und weiß demnach, was es bedeutet, sich wieder in den Hochleistungssport zurückzuarbeiten. „Sie ist für mich ein Vorbild. Wir trainieren manchmal gemeinsam und es tut einfach gut, mit jemandem zu reden, der in der gleichen Situation ist“, so die Fechterin.
Allerdings gibt es bei Lis Rottler-Fautsch eine Besonderheit. Sie hat eigentlich keine Zeit, wieder fit zu werden. Es gibt nur das eine Turnier am 24. April, bei dem es Olympia-Tickets gibt. Die zwei Monate nach der Geburt reichen nicht, um in körperliche Topform zu kommen, aber Jérôme Pauls ist sich sicher, dass die Fechterin dennoch in einem guten Zustand in Madrid auf der „Planche“ stehen wird. In erster Linie gehe es darum, dass die 34-Jährige kein gesundheitliches Risiko eingeht. „Wäre das der Fall, hätten wir ihr ganz klar davon abgeraten“, sagt Eric Besenius.
In der Sportmedizin geht es zu einem großen Teil um Schadensbegrenzung, Hochleistungssport ist nicht gesundheitsfördernd. Von Schadensbegrenzung spricht auch Danielle Rinnen. Sie versucht vor allem, den Beckenboden ihrer Patientin wieder zu stärken. Über diese Problematik werde immer noch nicht genug gesprochen, weiß die Kinesitherapeutin. Der Beckenboden bereite vielen Frauen nach der Schwangerschaft Probleme. „Aus dem Grund ist es wichtig, bereits vor der Geburt die Muskulatur zu stärken. Das haben wir bei Lis natürlich auch gemacht. Bei ihr kam noch hinzu, dass sie ihren Körper mehr beansprucht als andere Frauen nach der Schwangerschaft und die Zeit war sehr, sehr knapp.“
Zum Glück nur noch zwei Wochen
Da ist er wieder, der „knackige“ Zeitplan. Würde Lis Rottler-Fautsch eine Ausdauer-Sportart betreiben oder einen Sport mit Körperkontakt, wäre der Zeitplan nicht nur „knackig“, sondern utopisch. „Beim Fechten kommt es natürlich auch auf die Fitness an, aber nicht so sehr wie bei anderen Sportarten. Lis kann sehr viel durch ihre gute Technik und ihr Gespür für ihre Gegnerinnen wettmachen“, erklärt Jérôme Pauls.
Wobei die Degenfechterin ihr Gespür auf der Fechtpiste etwas verloren hat. Nach der Trainingseinheit in der Coque geht es erst einmal nach Hause zur Familie, um am Abend nach Esch zum Fechttraining zu fahren. Wieder kommt das schlechte Gewissen hoch. „Zum Glück sind es nur noch zwei Wochen. Und ganz gleich, ob es mit der Qualifikation für Tokio klappt oder nicht, nach Madrid werde ich erst einmal meinen Mutterschaftsurlaub genießen, denn dazu bin ich noch nicht gekommen.“
Seit ihrer Rückkehr aus Heidenheim wird Lis Rottler-Fautsch von Fechtmeister Maurice Pizay aus ihrem Verein Escrime Sud betreut. Der Franzose ist begeistert von den Fortschritten, die die 34-Jährige in den vergangenen beiden Wochen gemacht hat. Das Gefühl für die Distanzen und das richtige Timing kommen zurück. Den Grundstein hierfür hat das Duo Rottler-Fautsch/Pizay vor der Geburt gelegt. „Wir haben in den Monaten vor der Geburt an Lis’ Stärken gearbeitet. Dadurch hat sie in den Wochen, in denen sie nicht trainieren konnte, nicht viel verloren“, sagt Maurice Pizay. Andernfalls hätte die Zeit zwischen der Geburt und dem Qualifikationsturnier nicht ausgereicht. Für den Fechtmeister war die Zusammenarbeit eine neue Erfahrung. „Wir haben das Training natürlich anpassen müssen. Ausfallschritte zum Beispiel macht sie erst jetzt wieder.“ Das Duo hatte sich dazu entschieden, während der Schwangerschaft weiter im Stehen zu trainieren. Andere Fechterinnen, wie die ehemalige französische Sportministerin Laura Flessel, trainierten zum Beispiel im Sitzen.
Schreck und Zweifel
Noch am Tag vor der Entbindung hatte Lis Rottler-Fautsch eine Stunde bei ihrem Fechtmeister. Maurice Pizay war aufgefallen, dass sie wesentlich längere Pausen einlegen musste als an den Tagen zuvor. „Als sie anrief und sagte, dass Tim da sei, war ich erst einmal erschrocken und habe unser Training in Frage gestellt.“ Eigentlich war die Geburt erst für Mitte März vorgesehen, er kam aber schon am 7. Februar. „Ich habe mich natürlich gleich gefragt, ob ich es vielleicht mit dem Training übertrieben hätte“, so die frischgebackene Mutter. Entwarnung kam von ärztlicher Seite. „Das Training hatte keinen Einfluss auf die frühe Geburt. Der Arzt sagte mir, dass Tim auch hätte früher kommen können, wenn ich keinen Sport gemacht hätte.“ Somit hat der Sohnemann in gewisser Weise seinen Teil dazu beigetragen, dass die Mama ihren Olympia-Traum verwirklichen kann. „Es wäre äußerst knapp geworden, wenn Tim erst im März zur Welt gekommen wäre“, sagt Jérôme Pauls rückblickend.
Lis Rottler-Fautsch ist die Erste, die zum Training in der Escher Fechthalle erscheint. Sie zieht sich gerade um, während Maurice Pizay einer jungen Athletin noch eine Einzelstunde gibt. Nach und nach füllt sich die Halle, sofern das in Corona-Zeiten möglich ist. Lis Rottler-Fautsch trainiert gegen quasi jeden der Anwesenden. Eine junge Nachwuchsfechterin, wohl um die elf Jahre alt, darf es auch mit der Olympia-Kandidatin aufnehmen. Lis Rottler-Fautsch, die den Fechtsport über die Lasel zu ihrer Zeit im Fieldgen kennen und lieben lernte, schaut nie ausschließlich nach ihren eigenen Zielen, sondern denkt immer an die Zukunft des Fechtens. Eine Sportart mit Tradition in Luxemburg und durch Athleten wie Jean Link oder Colette Flesch mit einer erfolgreichen Geschichte.
Für eine weitere Olympia-Teilnahme einer Fechterin aus Luxemburg konnte Lis Rottler-Fautsch nicht sorgen. Ihrem Sport, dem sie auch in Zukunft noch verbunden bleiben will, hat sie in den vergangenen Jahren dennoch einen großen Dienst erwiesen. „Ich bin mit mir und meiner sportlichen Laufbahn im Reinen.“ Die Tränen von Madrid sind getrocknet und ein neuer Lebensabschnitt kann beginnen.
- Wie der Ochse vorm Weinberg: Die Tageblatt-Redaktion versucht sich als Winzer - 20. November 2024.
- Auf der Suche nach besseren Zeiten - 9. November 2024.
- Wie die Lokaljournalisten Kayla und Micah gegen die Polarisierung ankämpfen - 3. November 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos