EM-Kolumne „Extrawurst“ / Narrative des Raumes
Schon zehn Tage Europameisterschaft – und das Leben manch eines Fußballfans hatte endlich Struktur. An den Wochenenden musste alles Nebensächliche bis 15 Uhr erledigt sein. Dann gab der Fußball den Rhythmus vor. Die Zeit zwischen den Spielen musste gut eingeteilt und wenn möglich sogar vorbereitet sein. Fürs Getränkeholen und als Pinkelpausen sind die Halbzeitpausen geeignet. Nur werktags gilt es, die eine oder andere verpasste Partie am Nachmittag zu verschmerzen.
Die dritten Spieltage in der Gruppenphase geben schon mal einen dezenten Vorgeschmack auf jene Phasen, in denen man ohne Fußball auskommen muss. Die erste große Herausforderung dürfte die Zeit zwischen der Vorrunde und dem Achtelfinale sein. Zwei Tage ohne Fußball stimmen nachdenklich. Vielleicht lässt sich die Leere zwischen den Spielen mit psychologischer Hilfe überbrücken. Selbst Sport zu treiben, soll übrigens dabei hilfreich und womöglich gesund sein. Eine echte Alternative wäre auch der Griff zu einem Buch.
Selbst einige Fußballspieler greifen zu diesem Hilfsmittel. Vielleicht versteht es sich dann auch leichter, warum die frühere Fohlen-Ikone, der später unter anderem als Real-Legionär, Manager und Dauerkritiker bekannt gewordene Günter Netzer, seine Vorstöße einst „aus der Tiefe des Raumes“ vortrug. Wer die EM unbeschadet bis zum Finale in Berlin durchhält, kann sich glücklich schätzen, dass die eigene Mannschaft noch nicht ausgeschieden ist. Denn ein Debakel tiefer Sinnlosigkeit würde sich ausbreiten. Das Narrativ des Turniers müsste umgeschrieben werden.
Die Macht des Zufalls hängt wie ein Damoklesschwert über uns. Ein aberkanntes Lukaku-Tor mehr oder weniger, und der belgische Teufel liegt im Detail. Das Leben hängt oft an einer vergebenen Griezmann-Chance, einem nicht gegebenen Treffer von Xavi Simons, einem bitteren Calafiori-Eigentor oder an einem rettenden Füllkrug-Kopfball. Der Fußball hat ein ganzes Füllhorn an Emotionen parat. Gut, dass es noch bis Mitte Juli weitergeht. Für die Event-Fans bleibt nach der EM sowieso das große Nichts, für die Liebhaber des gepflegten Vereinsfußballs beginnt die wahre Ordnung des Alltags mit der neuen Saison im Wochenrhythmus.
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