Ukraine-Krieg / Olivier Thill nach seiner Flucht: „Das verkraftet man nicht so einfach“
Wer in den vergangenen acht Jahrzehnten in Luxemburg aufwuchs, wurde wahrscheinlich nie direkt mit dem Krieg konfrontiert. Für einige Menschen hat sich dies in den vergangenen Tagen geändert. Luxemburgs Fußballnationalspieler Olivier Thill gelang nach bangen Stunden am Samstag die Flucht aus der Ukraine. Im Tageblatt-Interview erzählt der 25-jährige Profi von Worskla Poltawa, wie er heute mit diesem schockierenden Erlebnis umgeht.
Tageblatt: Fünf Tage ist es her, dass Sie zusammen mit Ihrem Bruder und dessen Frau die Ukraine fluchtartig verlassen mussten. Haben Sie die Geschehnisse mittlerweile verdaut?
Olivier Thill: Es geht mir besser, aber ich beschäftige mich trotzdem andauernd mit dem Thema. Ich bin in ständigem Kontakt mit den Menschen und Mitspielern aus meinem Verein und verfolge auch die Nachrichten. Komplett abschalten kann man nicht, so lange dort weiterhin Krieg herrscht. Ich merke auch, dass mein Schlaf unruhiger ist. Ich träume nicht von Bomben, aber immer wieder von Geschehnissen in der Ukraine.
Wie versuchen Sie, diese Erlebnisse zu verarbeiten?
Nie hätte ich gedacht, dass ich irgendwann einmal in so einer Situation landen würde. Das verkraftet man nicht so einfach. Ich bin auch kein Mensch, der gerne und viel über seine Gefühle redet – ab und zu erzähle ich aber meiner Frau, der Familie oder meinen Freunden, was in mir vorgeht. Ich will aber betonen, dass wir sehr viel Glück hatten. Wir haben keine Bomben oder tote Menschen gesehen und sind sehr schnell über die Grenze gekommen.
Welches Gefühl herrschte in Ihnen, als Sie es schlussendlich über die ukrainisch-ungarische Grenze geschafft hatten?
Es hat ja sehr lange gedauert, bis wir schlussendlich die Grenze überqueren konnten. Zunächst war eine Straße gesperrt und dann sind wir an einer zerbombten Brücke vorbeigekommen und mussten deshalb wieder in eine andere Richtung fahren. Deshalb war ich umso glücklicher, als die Grenze in Sichtnähe war. Ich wusste, noch ein paar Meter und ich bin in Sicherheit und kann zurück zu meiner Familie. Es war ein unbeschreibliches Gefühl.
Was wäre, wenn diese Bombe ein paar Kilometer weiter eingeschlagen hätte?
Bei Ihrer Flucht wurden Sie von mehreren Seiten unterstützt. Viele Ukrainer waren komplett auf sich alleine gestellt. Welche Schicksale haben Sie erlebt?
Ich möchte mich an dieser Stelle bei jedem bedanken, der uns unterstützt hat. Die FLF, Nationaltrainer Luc Holtz und Außenminister Jean Asselborn haben getan, was sie konnten, um uns so schnell wie möglich nach Luxemburg zu bringen. Leider hatte nicht jeder dieses Glück. Es gab viel Stau, lange Schlangen, Menschen, die in Panik ausgebrochen sind. Die Afrikaner aus meinem Verein hatten nicht das Glück, dass ihr Land ihnen helfend zur Seite stand, und wussten teilweise nicht, was sie tun sollten. Als ich zurück in Luxemburg war, habe ich mich sofort beim Außenministerium gemeldet und gefragt, ob sie vielleicht meinem ghanaischen Teamkollegen auch helfen könnten. Mittlerweile hat er glücklicherweise ebenfalls das Land verlassen. Es wurde ein Zug für ihn gefunden und er befindet sich jetzt in Ungarn.
Stundenlang sind Sie mit einem Auto durch die Ukraine gefahren, die zu diesem Zeitpunkt bereits unter russischem Beschuss stand. Wie groß war die Angst, dass an einer Ecke die Gefahr lauern könnte?
So etwas versucht man, so gut es geht, zu verdrängen. Wir waren zu fünft im Auto und haben dauernd nach Themen gesucht, um uns abzulenken. Komplett kann man dieses Thema jedoch nicht ausblenden. Zwischendurch habe ich mir immer wieder gesagt, was wäre, wenn diese Bombe ein paar Kilometer weiter eingeschlagen hätte …?
Viele ukrainische Zivilisten haben sich mittlerweile freiwillig zum Dienst an der Waffe gemeldet, um ihr Land zu verteidigen. Wie sieht es mit Ihrem Umfeld aus?
Soweit ich weiß, hat sich bisher noch keiner meiner Mitspieler gemeldet. Die Ukrainer sind bisher alle in Poltawa geblieben, da die Stadt bisher verschont blieb. Die medizinische Abteilung von Worskla Poltawa hilft dem Militär, die verwundeten Menschen zu verarzten. Die meisten halten sich aber bereit. Ich habe gehört, dass viele bereits Molotow-Cocktails vorbereitet haben.
Bis zum Abbruch der Meisterschaft waren Sie dabei, Ihre beste Profisaison Ihrer Karriere zu spielen. Für Ihren Bruder Vincent sollte Worskla Poltawa nach seiner Verletzung einen Neustart darstellen. Wie schwer wiegt es, dass Sie sportlich durch den Krieg ausgebremst wurden?
Es ist blöd gelaufen für uns, aber im Moment gibt es wichtigere Sachen als Fußball. Irgendwann müssen wir uns aber wieder Gedanken machen, denn es ist unser Beruf, mit dem wir unser Geld verdienen und unsere Familie ernähren. Aktuell ist es aber nicht der richtige Zeitpunkt, um mit dem Verein über solche Dinge zu reden. Realistisch gesehen werden wir diese Saison mit Poltawa aber nicht zu Ende spielen. Ich halte mich derzeit mit meinem Bruder Vincent und Enes Mahmutovic beim Progrès Niederkorn und bei der FLF fit. Dafür sind wir sehr dankbar und hoffen, bei den Länderspielen Ende März gegen Bosnien-Herzegowina und Nordirland dabei zu sein. Hoffentlich ist der Krieg bald vorbei, sodass die Menschen wieder in die Normalität zurückkehren können.
Türkische Medien berichten, dass Sie vor einem Wechsel zu Besiktas Istanbul stehen. Was ist an diesem Gerücht dran?
Ich weiß derzeit von nichts. Es ist schön zu lesen, dass ich bei einem Verein wie Besiktas im Gespräch sein soll, aber solange keiner an mich herantritt, mache ich mir keine Gedanken um dieses Thema.
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