Radsport / Todesangst und fehlende Eier: Bissige Tour-Favoriten am „Unruhetag“
Nach dem ersten Tour-Drittel liegen die Favoriten dicht beieinander. Die Defensiv-Taktik von Jonas Vingegaard sorgt bei Tadej Pogacar und Remco Evenepoel aber für Unmut.
Tadej Pogacar und Remco Evenepoel schossen Giftpfeile auf den „eierlosen“ Jonas Vingegaard, der dänische Titelverteidiger wiederum sprach in einem bewegenden Monolog über die Todesangst nach seinem Horrorsturz: Die Stars der 111. Tour de France setzten auch beim ersehnten Durchschnaufen nach neun Tagen Schinderei ihren Schlagabtausch in den gewohnten Rollen fort. Der (Un-)Ruhetag von Orleans schürt den feurigen Kampf um Gelb.
„Ich denke, er hat einfach Angst vor mir. Deshalb sind er und sein Team so auf mich fokussiert“, sagte der slowenische Tour-Spitzenreiter Pogacar über Vingegaard mit Blick auf die spektakuläre Schotteretappe am Sonntag. Dort hatte Pogacar attackiert, der belgische Gesamtzweite Evenepoel ebenfalls. Vingegaard indes, Dritter der Gesamtwertung, klemmte sich stets an die Hinterräder seiner Rivalen, verweigerte aber die Führungsarbeit.
„Manchmal braucht man als Radprofi eben Eier. Die hat Vingegaard leider nicht gehabt“, sagte Evenepoel einigermaßen angefressen: „Sonst hätten wir zumindest am Sonntag schon das Podium entscheiden können.“ So aber gehen Pogacar, Evenepoel (33 Sekunden Rückstand), Vingegaard (+1:15 Minuten) und der durch des Dänen „Verweigerung“ eben nicht distanzierte slowenische Red-Bull-Kapitän Primoz Roglic (+1:36 Minuten) dicht beieinander in die zweite Woche.
Vingegaard bleibt gelassen
Nun lässt sich trefflich fragen, welches Interesse Vingegaard, der die Tour zum dritten Mal in Serie gewinnen will, daran haben könnte, einen dritten Platz frühzeitig abzusichern. „Ich hielt es nicht für sinnvoll, dass ich mich an der Tempoarbeit beteiligte. Ich wollte lieber auf meine Helfer warten“, sagte Vingegaard. Basketballhafter „Trashtalk“, wie ihn seine Rivalen in die Tour bringen, ist nicht das Ding des ruhigen Dänen.
Durchdachte Defensive gegen Abteilung Attacke – so läuft diese Tour. Vingegaard agiert bislang wie ein Tischtennis-Spieler, der mit langen Noppen unbeeindruckt die ständigen Topspin-Bälle daueroffensiver Gegner wegarbeitet. Nur: Eine Niederlage bei der Tour zu vermeiden, heißt nicht unbedingt, diese dann auch zu gewinnen.
Das weiß Vingegaard. Er weiß aber auch: Angesichts der schweren Verletzungen von der Baskenland-Rundfahrt im April und des entsprechenden Trainings-Rückstands ist jeder Tag ohne Zeitverlust ein Gewinn. Und mit jedem solchem Tag wächst Vingegaards Chance, bei den ultraschweren letzten drei Etappen selbst zuschlagen zu können.
Offene Worte des Dänen
Ohnehin will sich Vingegaard nicht unter Druck setzen. „Ich genieße es einfach, hier auf dem Rad sitzen zu dürfen und Rennen zu fahren“, sagte er am Montagmorgen vor großer Journalisten-Runde. Dass er im Mercure-Hotel von Orleans überhaupt Hof halten konnte, sei keineswegs selbstverständlich gewesen.
Unmittelbar nach dem Abfahrts-Sturz im Baskenland habe Vingegaard fast schon abgeschlossen gehabt. Mit allem: „Ich dachte, ich würde sterben. Als ich dort am Boden lag, habe ich mir gesagt: Wenn ich das überlebe, höre ich mit dem Radfahren auf.“ Damals landete er mit Knochenbrüchen und punktierter Lunge auf der Intensivstation: „Aber jetzt sitze ich hier, also habe ich offensichtlich nicht aufgehört.“
Seine derzeitige Defensiv-Haltung hat demnach nicht nur taktische Gründe, sie ist für den Familienvater gleichsam eine lebenserhaltende Maßnahme. „Vorher dachte ich, schwere Stürze werden mir schon nicht passieren. Bis es dann passierte“, sagte er: „Jetzt bin ich vorsichtiger. Und das kann man auch sein, wenn man um Siege fährt.“
Und allein für diese Erkenntnis braucht es, Pardon: Eier.
10. Etappe: Die Angst vor dem Wind
Nach dem ersten Ruhetag der Tour de France erwartet die Radprofis am Dienstag auf den ersten Blick eine gut zu bewältigende Flachetappe. Allerdings könnten Windkanten auf den 187,3 Kilometern zwischen Orléans und Saint-Amand-Montrond für Frust im Fahrerfeld sorgen. 2013 war das Peloton beim letzten Halt hier kräftig durcheinandergewirbelt worden. Erneut dürften auf dem zehnten Teilstück der Tour die Sprinter im Zielbereich das Sagen haben. Möglicherweise können sich die schnellen deutschen Profis Phil Bauhaus und Pascal Ackermann in einem Massensprint in Szene setzen.
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