Radsport / Tour-de-France-Kolumne von Petz Lahure: Mark Cavendish, das Stehaufmännchen
Der 39-jährige Mark Cavendish ist seit letzter Woche mit 35 Etappensiegen alleiniger Inhaber des Tour-Rekords. Der Mann ist ein Phänomen.
Vor fast genau zehn Jahren (7. Juli 2014) saß Andy Schleck zum letzten Mal in seiner Profikarriere bei einem offiziellen Wettbewerb auf einer Rennmaschine. Auf der dritten Etappe der Tour de France, die über 155 km von Cambridge nach London führte, zog er sich bei einem Sturz derart schwere Verletzungen zu, dass er tags darauf den Start zur vierten Teilstrecke von Le Touquet-Paris Plage nach Villeneuve-d’Ascq nicht mehr nehmen konnte.
Vor 10 Jahren war Schluss
Luxemburgs Tour-de-France-Sieger von 2010 litt an Blessuren der Kollateral- und Kreuzbänder sowie an einem Riss des Meniskus im rechten Knie. Zudem war eine Knochenschädigung im selben Knie festgestellt worden.
Vor der vierten Etappe versuchte Andy, sich auf der Rolle warmzufahren, doch dann musste er einsehen, dass seine Bemühungen keinen Zweck hatten. Schlecks Weiterreise bei dieser 101. Tour de France führte also nicht wie die der anderen Fahrer von der britischen Insel aufs französische Festland, sondern vielmehr zu einem Chirurgen in die Basler Klinik.
Zwei Monate später, am 9. Oktober 2014, erklärte Andy Schleck vor versammelter internationaler Presse seinen Rücktritt vom Leistungssport. Er war erst 29 Jahre alt. „Drei bis vier Stunden halte ich es auf dem Rad aus“, sagte er damals, „doch wenn ich die Trainingsintensität erhöhe oder einen Berg hochfahre, kehren die Schmerzen zurück und das Knie schwillt sofort an. Die Bänder haben sich zwar erholt, doch unter der Kniescheibe habe ich fast keinen Knorpel mehr. Das ist die Hauptursache für die Leiden.“
Die Maschine Cavendish
Achtundvierzig Stunden vor dem folgenschweren Sturz von Andy Schleck lag ein anderer Tour-Fahrer regungslos auf englischem Boden. Mark Cavendish, der unbedingt die erste Etappe von London nach Harrogate gewinnen und endlich das begehrte „Maillot jaune“ überstreifen wollte, war rund 250 m vor dem Ziel durch eigene Schuld mit dem Australier Simon Gerrans kollidiert und auf die rechte Schulter gefallen. Bänderrisse und eine Verrenkung im Schultereckgelenk zwangen ihn zur Aufgabe.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der in Laxey auf der Isle of Man geborene Cavendish (*21.5.1985) bereits 25 Etappen bei der Tour de France gewonnen, die erste bei seiner zweiten Teilnahme im Jahr 2008 in Châteauroux (5. Etappe), wo er den Spanier Oscar Freire und den Deutschen Erik Zabel auf die Plätze verwies. Bei derselben Tour folgten drei weitere Etappensiege in Toulouse, Narbonne und Nîmes.
Die „Maschine“ Cavendish lief in den Jahren danach auf vollen Touren: sechs Siege im Jahr 2009, jeweils fünf bei den Ausgaben 2010 und 2011, drei erste Plätze im Jahr 2012 und zwei Erfolge bei der Tour 2013.
In den Geschichtsbüchern
Was er 2014 im eigenen Land nicht erreichte, gelang ihm zwei Jahre später. Cavendish, der im heimischen Harrogate statt auf dem Podium in der Klinik landete, war auf der unendlich langen Zielgeraden von Utah Beach der Schnellste. Des Engländers D-Day erfolgte also genau an dem Ort, wo die Alliierten 72 Jahre zuvor Europas Befreiung vom Nazi-Joch eingeleitet hatten.
Damit ging Cavendish schon 2016 in die Geschichte ein als einer der wenigen, die alle drei Leadertrikots der drei großen Rundfahrten auf den Schultern trugen. Er gewann übrigens auch die Punktewertungen der Tour, des Giro und der Vuelta.
Als man ihm in Utah Beach das begehrte „Maillot jaune“ über den Kopf zog, hatte er Tränen in den Augen. „Wer weiß, was die Frankreich-Rundfahrt mir bedeutet, kann das verstehen“, sagte er, überwältigt von den Emotionen, deren er in seiner langen Karriere haufenweise erlebt hat. „Ich bin froh, dass ich endlich das geschafft habe, wonach ich seit Jahren trachte. Das Gelbe Trikot hat in meiner Sammlung gefehlt.“
Rückschläge
Am Ende der Tour 2016 hatte Mark Cavendish es auf 30 Etappensiege gebracht, sodass es keine Utopie war, den Rekord von Eddy Merckx ins Auge zu fassen. In den folgenden Jahren aber gab es herbe Rückschläge. Im Jahr 2017 wurde er auf der vierten Etappe nach einem tumultartigen Spurt, bei dem Peter Sagan (zu Unrecht) disqualifiziert wurde, mit einem Bruch des Schulterblatts in die Klinik eingeliefert, 2018 musste er die Tour in den Bergen wegen Überschreitung des Zeitlimits vorzeitig verlassen, danach (2019, 2020) verpasste er krankheitshalber (Pfeiffersches Drüsenfieber, Depressionen) zwei Rundfahrten und stand mit 33 Jahren praktisch vor dem Ende seiner Karriere.
Etwas überraschend ließ er sich im Jahr 2021 für den damaligen Mindestlohn von 40.000 Euro von Quick-Step-Chef Patrick Lefevere anheuern. Zur Tour kam „Cav“ über Umwege, weil der Ire Sam Bennett, die Nummer eins der Sprinter im Team, sich mit dem Chef überworfen hatte und wegen einer Verletzung nicht für eine Teilnahme zur Verfügung stand.
Cavendish nutzte die einmalige Chance, verblüffte Freund und Feind, gewann vier Etappen und obendrauf das „Maillot vert“.
Winokurows Riecher
Der Rekord von Eddy Merckx (34 Etappensiege) war zwar eingestellt, die Enttäuschung aber groß, weil Lefevere im darauffolgenden Jahr dem niederländischen Jungstar Fabio Jakobsen den Vorzug bei der Tour gab. Cavendish wurde vom Quick-Step-Manager regelrecht hinauskomplimentiert und landete 2023 bei der Astana-Qazaqstan-Mannschaft von Alexander Winokurow. Für diesen war es eine Prestigesache, Cavendish die Möglichkeit zu bieten, alleiniger Rekordhalter von Etappensiegen bei der Tour de France zu werden.
Ein weiterer Rückschlag aber sollte (fast) alles zunichtemachen. Auf der siebten Etappe spielte der Radwechsler verrückt, sodass „Cannonball“, wie er auch mal von Freunden gerufen wird, kurz vor dem Zielstrich in Bordeaux von Fabio Jakobsen eingefangen und auf den zweiten Platz verwiesen wurde. Tags darauf stürzte er und musste mit einem Schlüsselbeinbruch aufgeben.
Die Mutierung
Der Traum vom 35. Etappensieg schien ausgeträumt, umso mehr, da Cavendish die Lust am Radfahren vergangen war und er sich auf die 39 zubewegte. Im Oktober 2023 aber ließ er sich von Winokurow umstimmen und erklärte sich bereit, noch ein Jahr dranzuhängen.
Astana verpflichtete daraufhin den auch schon in die Jahre gekommenen Dänen Michael Mørkøv (38), der Cavendish bei Quick-Step als Lokomotive gedient hatte.
Schon kurz nach dem Start in Florenz sah es nicht danach aus, als ob aus dem Traum Wirklichkeit werden könnte. Das aufopferungsvolle Astana-Team musste den kranken „Soldaten“ Cavendish während der ersten zwei Tour-Tage in Italien förmlich bis ins Ziel schleppen, der Rückstand der wackeren Truppe pendelte ganz oft am Zeitlimit. Doch 72 Stunden später, mit dem Absinken der Temperaturen, tauchte er wieder auf, der „Cav“, wie einem Jungbrunnen entsprungen.
Merckx’ Fehler
Der historische Tag war der 3. Juli 2024. Start in Saint-Jean-de-Maurienne, Ankunft in Saint-Vulbas, dazwischen 177,4 km mit wenigen Schwierigkeiten. Am Schluss wartete die avenue des Bergeries auf die Fahrer, eine Zielgerade von 2,2 km Länge und 6,5 m Breite. Sozusagen ein gefundenes Fressen für den jugendlichen Rebellen von 2008, der binnen 16 Jahren zum gutmütigen vierfachen Familienvater mutierte.
Eddy Merckx war einer der Ersten, die gratulierten. Eigentlich hätte auch er 35-mal als Sieger bei der Tour über den Strich fahren müssen. Am 18. Juli 1972, auf der kurzen Bergetappe von Aix zum Mont Revard (28 km, davon 21,3 km Steigung à 6%), wähnte er sich schon auf Platz eins, hob freudestrahlend den Arm in die Höhe … und wurde um Millimeter vom Franzosen Cyrille Guimard geschlagen.
Anderen Fahrern und Fahrerinnen ist Ähnliches auch schon passiert. Sogar zwei Luxemburgern. Fragen Sie kurioserweise doch mal bei Kim Kirchen und Christine Majerus nach …
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