Tokio 2020 / Von Status quo bis Apokalypse: Was Luxemburger in Japan von Olympia halten
In rund einem Monat sollen die Olympischen Sommerspiele in Tokio stattfinden. Vorfreude kommt bei der Bevölkerung aufgrund der Pandemie nicht auf. Das Tageblatt hat sich bei Luxemburgern, die in Japan leben, umgehört.
In Japan kommt nicht wirklich Vorfreude wegen Olympia auf. Den Einwohnern fehlt das Verständnis dafür, dass eine solche Veranstaltung während einer Pandemie ausgetragen werden muss. Momentan sieht es aber so aus, als ob die Sommerspiele vom 23. Juli bis 8. August in der japanischen Metropole stattfinden würden. Zwar mit strengen Sicherheitsvorkehrungen und ohne ausländische Zuschauer, was die Japaner aber nicht wirklich besänftigt. „Große Frustration und Wut“ hätten sich bei der Bevölkerung breitgemacht, sagt Laurent Selyer. Der Luxemburger lebt seit 2004 in Japan und wohnt in einer Nachbar-Präfektur von Tokio. Seyler hat die Geschichte der Olympischen Spiele genau verfolgt und kommt zum Schluss, dass es von Anfang an ein einziges Chaos gewesen sei. Die explodierenden Kosten von sieben auf 25 Milliarden Dollar, der Rücktritt des Organisationschefs wegen sexistischer Äußerungen und nun das Festhalten an den Spielen trotz Covid-19.
Zuletzt hatten vor allem japanische Ärzte gegen die Durchführung von Olympia protestiert. Sie fürchten eine neue Infektionswelle, die das japanische Gesundheitssystem, das ohnehin schon überlastet sei, zum Kollabieren bringen würde. „Das war schon ein starkes Zeichen, Japaner gehen fast nie auf die Straße, um zu protestieren“, sagt Seyler. Lange Zeit lag die Ablehnung in Umfragen bei rund 80 Prozent. Seit einigen Wochen haben sich die Werte leicht gebessert, was laut Seyler an der Fragestellung liege. Zu Beginn habe man von der Bevölkerung wissen wollen, ob sie für oder gegen die Austragung der Spiele sind. „Jetzt fragt man, ob sie für eine Austragung mit oder ohne Zuschauer sind, ob sie für eine weitere Verlegung der Spiele plädieren oder für eine komplette Absage.“ Das sei die Erklärung, wieso der Prozentsatz der Leute, die für eine Komplettabsage sind, gesunken sei. Seyler glaubt jedenfalls nicht, dass sich die Stimmung im Land gedreht habe.
Pandemie als politische Krise
Ähnlich sieht es Eveline Dell. Die Luxemburgerin lebt seit 30 Jahren in der Präfektur Hokkaido, im Norden Japans, wo aufgrund der extremen Hitze in Tokio der olympische Marathon ausgetragen wird. „Die Menschen sind gegen die Spiele“, sagt Dell. Sie kenne niemanden, der wirklich für eine Austragung von Olympia sei. Sie selbst kann auch nicht verstehen, wie man an einer solchen Veranstaltung festhalten kann, während man die Pandemie nicht wirklich im Griff hat.
Im Vergleich zu anderen asiatischen Ländern hat sich Japan eher schlecht aus der Affäre gezogen. „Es wird einfach nicht viel getestet, dann gibt es auch keine positiven Fälle“, beschreibt Dell das Vorgehen der Regierung. Sie selbst wollte sich erst kürzlich testen lassen und hat bei den Behörden nachgefragt, wo sie einen PCR-Test durchführen könne. „Das konnte mir aber keiner beantworten.“ Was Behördengänge anbelange, würde Japan ohnehin hinterherhinken. Lediglich in der Industrie sei Japan eine Hightech-Nation, im Alltag der Bürger funktioniere noch sehr viel analog. „Hier kann man in den Geschäften noch Faxe versenden“, berichtet Steve Clement, dessen Frau an der Uni in Tokio forscht und mit der er seit einiger Zeit in der Millionenmetropole lebt.
Zu Beginn wurde das Coronavirus einfach totgeschwiegen
Seyler zufolge betrachtet die Regierung die Pandemie als politische und nicht als sanitäre Krise, was ebenfalls an Olympia liege. So habe die Impfkampagne erst im Mai ein wenig an Fahrt aufgenommen, als die Spiele auf der Kippe standen. Bis dahin wurde lediglich mit Biontech/Pfizer geimpft. Mittlerweile wurden die Vakzine von Moderna und AstraZeneca ebenfalls zugelassen. Dennoch sind nur knapp sieben Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. „Die Impfkampagne ist eine Katastrophe. Zuerst hatten sie festgestellt, dass sie nicht genügend Tiefkühler für den Impfstoff hatten, dann fehlten die richtigen Spritzen“, so Seyler.
Die Pandemiebekämpfung der Regierung steht aber nicht erst seit der Impfkampagne in der Kritik. „Zu Beginn wurde das Coronavirus einfach totgeschwiegen. Japaner würden sich aufgrund ihrer gesunden Ernährung nicht anstecken, wurde erzählt, bis die Pandemie nicht mehr zu leugnen war.“ Der Regierung sei es von Beginn an nur darum gegangen, Olympia zu retten, und nicht um die Gesundheit der Bevölkerung. Der Notstand, in dem sich ein Großteil Japans seit Wochen befindet, sei auch nur da, um die Infektionen vor den Spielen zu senken.
Wobei der japanische Notstand nicht mit einem europäischen Lockdown zu vergleichen ist. „Ausgangssperren oder ähnliches werden durch die Verfassung verboten. Die Japaner sind sehr mobil im eigenen Land“, erklärt Seyler. Diese Erfahrung machte auch Clement. „Auf den Straßen ist doch noch einiges los.“ Auch Clement hat die Proteste gegen Olympia beobachtet, es war eigentlich die erste richtige Protestbewegung, die er in Japan erlebt hat. Olympia sei schon irgendwie präsent, Vorfreude konnte aber auch Clement nicht erkennen. „Es ist schon irgendwie komisch. Mittlerweile hängen die Olympia-Fahnen schon so lange in der Stadt herum, dass sie bereits ausgetauscht werden mussten.“
Der Konkurrent aus China
Vor der Pandemie sei die Stimmung noch anders gewesen, sagt Dell. „Da konnte man schon eine Vorfreude in der Bevölkerung ausmachen.“ Da die Werbespots für Olympia bereits gedreht wurden, habe man den ganzen Sommer 2020 Werbung der Olympia-Sponsoren gesehen. „Mittlerweile steht nur noch klein in einer Ecke, dass das Unternehmen auch Partner von Tokio 2020 sei. Die Sponsoren haben die Stimmung in der Bevölkerung schon wahrgenommen“, meint Seyler. Allerdings sollte sich die Regierung nun erst einmal auf die Pandemiebekämpfung konzentrieren als auf ein Sport-Großereignis.
Die japanische Kultur ist darauf ausgerichtet, dass man als Kollektiv funktioniert
Wieso die Regierung unbedingt an den Spielen festhält, hat Seyler zufolge mit falschem Stolz zu tun. „Es ist ein Prestige-Projekt, deshalb will man es nicht absagen.“ Er glaubt nicht so sehr daran, dass es eine finanzielle Frage ist. „In Japan explodieren die Kosten sowieso bei jedem Projekt. Auch wenn eine Absage nun wieder über 16 Milliarden Dollar kosten würde, ist das in meinen Augen nicht der Grund.“ Seyler hat in einer japanischen Zeitung eine andere Erklärung gelesen. Eine anonyme Quelle, die der Regierung nahestehe, habe erklärt, dass Japan an den Spielen festhalte, weil China im Jahr darauf auch Olympische Spiele austrage. Die Winterspiele 2022 werden in Peking stattfinden. „Dass die Konkurrenz zu China ein Grund ist, scheint mir durchaus plausibel“, sagt Seyler.
Die Japaner regen sich dann eher bei sich zu Hause auf, als dass sie auf die Straße gehen werden
Sollten die Olympischen Spiele stattfinden, glaubt Clement nicht an große Proteste. „Die japanische Kultur ist darauf ausgerichtet, dass man als Kollektiv funktioniert. Wenn die Spiele stattfinden sollten, wird das nicht anders sein“, sagt Clement. Eveline Dell kann sich auch nicht vorstellen, dass es zu großen Protesten kommt. „Die Japaner regen sich dann eher bei sich zu Hause auf, als dass sie auf die Straße gehen werden.“
Ob die Spiele nun wirklich stattfinden werden oder nicht, mag keiner der drei Luxemburger vorauszusagen. „Die Angst vor einem erneuten Corona-Ausbruch ist groß“, meint Dell. Die Ärzte hätten sich wohl nicht umsonst gegen Olympia ausgesprochen. „Im besten Fall bleibt es beim Status quo, im schlimmsten Fall wird es die Apokalypse“, schlussfolgert Selyer.
Erster Corona-Fall in Olympia-Delegation
Ein Mitglied des ugandischen Olympia-Teams ist nach der Landung am Tokioter Flughafen Narita positiv auf das Coronavirus getestet worden. Zum neunköpfigen Tross aus Afrika gehörten Boxer, Trainer und Funktionäre. „Die Person wurde gemäß den Vorgaben isoliert“, sagte Hidemasa Nakamura, der Verantwortliche für die Durchführung der Sommerspiele in Japan. Nach Informationen des japanischen Senders NHK wurden alle Teammitglieder vor dem Abflug in Uganda geimpft und negativ getestet. Es handelt sich um den ersten Corona-Fall in einer ausländischen Olympia-Delegation. Vor dem Team aus Uganda waren allerdings nur die Softballerinnen aus Australien in Japan eingetroffen. Die anderen acht Personen sind nach Osaka weitergereist. (dpa)
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