Christine Majerus / Wie große Geschichten beginnen: Rückblick auf eine außergewöhnliche Karriere, Teil 1
Am 13. Oktober beendet mit Christine Majerus eine der größten Sportlerinnen Luxemburgs ihre professionelle Karriere. Ihr letztes Etappenrennen, die Simac Ladies Tour, beginnt am Dienstag. Das Tageblatt blickt in einer mehrteiligen Serie auf die Karriere der Radsportlerin zurück. Teil 1 erklärt, wie große Geschichten beginnen.
November 2007. Die 20-jährige Christine Majerus geht beim Cyclocross des SaF Cessingen an den Start. Die Konkurrenz ist groß. Neben der einheimischen Elite, wie Nathalie Lamborelle, ist noch Julie Krasniak aus Frankreich am Start. Majerus und Krasniak setzen sich ab und dominieren das Rennen. „Hier musst du vorne sein“, ruft Michel Zangerlé, Trainer von Majerus, seinem Schützling zu und zeigt auf einen bestimmten Streckenabschnitt. Genau dort ist Majerus vorne, kann sich etwas absetzen und geht allein an der Spitze in die letzte Kurve. Dann der Sturz. Sie steigt wieder aufs Rad, doch die Kette ist abgesprungen. Krasniak fährt vorbei und sichert sich den Sieg.
Für Majerus eine herbe Enttäuschung, ein „Weltuntergang“, wie Zangerlé es beschreibt. Für ihn ist es ebenfalls ein sehr emotionaler Moment, allerdings ein positiver. Es ist der Augenblick, in dem er verstanden hat, was in den Jahren darauf noch kommen wird. „So ein Ausnahmetalent hat man als Trainer nicht oft. Das wurde mir da klar“, so Zangerlé, der Majerus in den vergangenen 18 Jahren als Trainer zur Seite stand.
Nach 100 m am Boden
Dass Majerus für den Leistungssport gemacht sei, wurde Zangerlé ein Jahr zuvor bewusst. Ihre Zusammenarbeit begann im Herbst 2006. „Damals war ich mit der Uni fertig und habe als Trainer in Cessingen begonnen. Christines Bruder, mit dem ich Rennen gefahren bin, fragte mich, ob ich seine Schwester trainieren will.“
Bis dahin hatte Christine Majerus als Leichtathletin auf sich aufmerksam gemacht. Eine immer wiederkehrende Sehnenentzündung im Fuß bewegte die 400- und 800-m-Läuferin dazu, die Sportart zu wechseln. 2005 stand sie erstmals gemeinsam mit Chantal Hoffmann, die ebenfalls gerade von der Leichtathletik zum Radsport gewechselt war, am Start der nationalen Straßenmeisterschaft in Mamer. „Nach 100 Metern lagen wir beide bereits auf dem Boden“, erinnert sich Hoffmann, die ihre Profi-Karriere 2019 beendete. Beide kannten sich bereits flüchtig aus der Leichtathletik, während ihrer Zeit im Radsport wurde daraus eine enge Freundschaft. Heute ist Majerus die Patentante von Hoffmanns Sohn. „Vielleicht hat der Sturz in Mamer uns so verbunden“, scherzt Hoffmann.
2006, ein Jahr nach Mamer, ging Majerus in Bürden an den Start der Meisterschaften und zeigte im Straßenrennen eine ansprechende Leistung. Anschließend durfte sie mit der Nationalmannschaft zur Tour de l’Ardèche. „Eigentlich war ihre Nominierung dazu gedacht, die Reihen vollzumachen“, sagt Zangerlé. Die Leaderin des Teams war Nathalie Lamborelle, doch Majerus habe ihr im Berg in nichts nachgestanden, so ihr Trainer. „Ich denke, dieses Rennen hat den Ausschlag gegeben, dass Christine sich stärker auf den Radsport konzentrieren wollte.“
Oben angekommen und untröstlich
Das war der Moment, in dem der Bruder von Majerus an Zangerlé herangetreten ist. „Christine und ich setzten uns ein erstes Mal zusammen. Ich sah sofort, dass sie die richtige Einstellung mitbrachte, um im Leistungssport zu bestehen. Der Wille war von Anfang an da.“ Bei dem Treffen war noch nicht klar, für welche Sportart sie sich entscheiden würde. „Sie hatte mich gebeten, auch Laufen und Schwimmen in den Trainingsplan einzubeziehen.“ Nach ihrer Leichtathletik-Karriere machte Majerus, wie auch Chantal Hoffmann, noch einen Abstecher in den Triathlon. „Beim zweiten Treffen war das kein Thema mehr“, erinnert sich Zangerlé. Er hat da bereits gemerkt, dass es auch auf der persönlichen Ebene gut funktioniert, was für das Vertrauensverhältnis zwischen Sportlerin und Trainer von großer Bedeutung ist.
Während ihren Jahren bei dem französischen UCI-Team ESGL 93 – GSD Gestion studierte Majerus und schloss mit zwei Master-Diplomen in Sportwissenschaften ab. Das Jahr 2012 war aber nicht nur aufgrund ihres abgeschlossenen Studiums ein besonderes Jahr. In London nahm sie erstmals an den Olympischen Spielen teil. Für den damaligen luxemburgischen Nationaltrainer Bernhard Baldinger war es „ein absolutes Highlight, eine Frau bei Olympia dabei zu haben. Damit hatten wir es endlich geschafft, eine Luxemburgerin ganz oben dabei zu haben.“
Sie konnte schon mal richtig ausrasten. Heute ist sie deutlich ruhiger geworden.Trainer
Majerus erreichte recht schnell ein gutes Niveau. „Man muss aber auch sagen, dass der Damenradsport damals auf einem Tiefpunkt angekommen ist. Die Frauen bekamen nicht viel Beachtung und die Leistungsdichte war auch nicht sehr groß“, so Zangerlé. 2007 nahm Majerus erstmals an der Weltmeisterschaft in Stuttgart teil, 2008 fuhr sie dann erstmals für ESGL 93 – GSD Gestion. „Dass Christine dort untergekommen ist, würde ich schon als Schlüsselmoment in ihrer Karriere bezeichnen“, sagt Zangerlé. Mit ihrem Team nahm Majerus damals an der ersten Auflage des Grand-Prix Elsy Jacobs teil und wurde gleich Vierte. „Hier sah Christine, dass sie auch international mithalten konnte“, so Zangerlé.
Vom Studium in den Schlamm
Im strömenden Regen fuhr sie im Hauptfeld als 21. ins Ziel, lediglich 40 Fahrerinnen kamen in die Wertung. Majerus hatte ein achtbares Ergebnis erzielt, war dennoch untröstlich. „Nach dem Rennen wollte ich sie einfach in den Arm nehmen. Ich habe nicht verstanden, wieso sie noch mit dem Schicksal haderte. Aber es gelang mir nicht, sie zu trösten“, erinnert sich Baldinger.
In den Anfangsjahren reagierte Majerus öfters sehr emotional. „Sie konnte schon mal richtig ausrasten. Heute ist sie deutlich ruhiger geworden“, sagt Zangerlé. Da habe die Armee keine unwesentliche Rolle gespielt. Nachdem Majerus ihr Studium abgeschlossen hatte, sagte Zangerlé ihr, dass sie zwei Möglichkeiten habe. „Entweder gehst du arbeiten oder du gehst zur Sportsektion der Armee. Nur Rad zu fahren, war in meinen Augen keine Option, da man als Frau damals einfach nichts verdiente.“ Sie machte die Grundausbildung.
Es waren keine einfachen Monate. „Du hast gerade dein Studium erfolgreich abgeschlossen und musst dich dann herumkommandieren lassen und durch den Schlamm robben. Zu der Zeit gab es mehr als ein Wochenende, an dem Christine bei mir zu Hause saß und Tränen flossen, weil sie nicht zurückkehren wollte“, sagt Zangerlé. Sie hat durchgehalten, war finanziell abgesichert und konnte sich auf ihren Sport konzentrieren. Einige Jahre später schenkte sie ihrem Trainer ein Poster, das noch heute in dessen Büro hängt. Darauf ist zu lesen: „Every great story happened when someone decided not to give up“.
Eine Karriere in sechs Etappen
Zum Karriereende von Christine Majerus am kommenden Sonntag blickt das Tageblatt in einer sechsteiligen Serie auf verschiedene Aspekte der Karriere der Radsportlerin zurück:
1. Etappe (8. Oktober 2024): Die Anfänge
2. Etappe (9. Oktober 2024): Der Weg an die Weltspitze
3. Etappe (10. Oktober 2024): Die Liebe zum Cyclocross
4. Etappe (11. Oktober 2024): Reaktionen von langjährigen Wegbegleitern
5. Etappe (12. Oktober 2024): Ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit
6. Etappe (14. Oktober 2024): Das große Interview
Start der Simac Ladies Tour am Dienstag
Mit der Simac Ladies Tour startet am Dienstag das letzte professionelle Rennen von Christine Majerus. Zum Auftakt warten 10,1 Kilometer Zeitfahren rund um Gennep. Das sechstägige Etappenrennen in den Niederlanden ist für Sprinterinnen gemacht. Majerus’ Team schickt zum Saisonabschluss nochmal die Besten ins Rennen: neben der 37-jährigen Luxemburgerin werden unter anderem Weltmeisterin Lotte Kopecky und Europameisterin Lorena Wiebes für SD Worx ProTime starten. Nach dem letzten Profi-Rennen von Majerus wartet dann noch der Cyclocross von Diekirch am 16. November auf Majerus. Dort startet sie dann ein letztes Mal für die Armee.
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