Editorial / Eine zukünftige Regierung muss die gesamte Gesellschaft einbinden – nicht bloß die Wähler
Luxemburg hat ein Problem mit der Armut, und das gleich auf mehreren Ebenen. 13,5 Prozent der gebietsansässigen Arbeitnehmer lebten 2021 in einem von Armut bedrohten Haushalt. Die Jugendarmut liegt in Luxemburg bei 27 Prozent und damit höher als der europäische Durchschnitt.
Die Kluft zwischen Arm und Reich wird seit Jahrzehnten größer. Im Wahlkampf wurde das Thema wieder einmal vor allem auf Steuerpolitik und Logement reduziert. Steuerliche Entlastungen bis tief in die Mittelschicht und Maßnahmen, damit man sich wieder eine Wohnung leisten kann – wie quasi alle Parteien sie fordern –, würden sicherlich ihren Teil zur Entschärfung der Lage beitragen. Jedenfalls für den Teil der Bevölkerung, der für die politischen Parteien ausschlaggebend ist. Es sind die Mittelschicht und die Wohnungs- oder Hausbesitzer, die den Großteil der Wählerschaft ausmachen. Es gibt aber noch einen anderen Teil, besser gesagt eine andere Hälfte der Bevölkerung, die am Sonntag nicht zur Wahl schreiten darf, weil sie keinen luxemburgischen Pass hat. Der größte Teil der sogenannten Working Poor in Luxemburg sind Ausländer.
Im Wahlkampf waren sie kein Thema, auch wenn die Parteien das Armutsrisiko als Problem erkannt haben. Seit dem Referendum von 2015 traut sich niemand mehr an das Thema Einwohnerwahlrecht heran. Dabei ist und bleibt Luxemburg ein Einwanderungsland. Die ASTI wünscht sich deshalb, dass eine zukünftige Regierung die Dimension und Bedeutung der Migration für Luxemburg akzeptiert. Durch konsequentes Ignorieren ist das Demokratiedefizit aber noch nicht aus der Welt. Eine starke Zivilgesellschaft kann hier zwar Abhilfe schaffen, allerdings sind auch ihre Möglichkeiten begrenzt. „Im Grunde hat der Wähler zwei Stimmen, seine eigene sowie die Stimme all jener, die kein Wahlrecht haben“, sagte Serge Kollwelter von der Bürgerinitiative „Ronnen Dësch“ vor kurzem im Tageblatt.
Eine Aussage, die man am Sonntag in der Wahlkabine im Hinterkopf behalten sollte. Nach Pandemie, Inflations- und Energiekrise sowie einem Kriegsausbruch in der Ukraine geht es für eine kommende Regierung auch darum, den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken. Da spielt natürlich der Kampf gegen die Armut und die damit verbundene Logement-Krise eine zentrale Rolle. Aber auch der Kampf gegen den Klimawandel oder unser Verhältnis zur Arbeitswelt werden die kommenden Jahre mehr oder weniger bestimmen. Wollen wir weiter nach dem Motto „Wenn es den Betrieben gut geht, geht es den Menschen gut“ leben, oder ist nicht doch ein Gesellschaftsmodell nach der Devise „Wenn es den Menschen gut geht, geht es den Betrieben gut“ möglich?
Es sind allesamt Herausforderungen, an denen in den kommenden Jahren kein Weg vorbeiführt und die nicht mit der einen, bestenfalls noch Wählerstimmen bringenden Idee beantwortet werden können. Wer den sozialen Zusammenhalt gewährleisten und das Land voranbringen will, der muss dafür sorgen, dass wir die großen Herausforderungen gemeinsam als Gesellschaft angehen. Das bedeutet auch, die Hälfte mit einzuschließen, die am Sonntag keine Stimmen vergeben kann.
- Wie der Ochse vorm Weinberg: Die Tageblatt-Redaktion versucht sich als Winzer - 20. November 2024.
- Auf der Suche nach besseren Zeiten - 9. November 2024.
- Wie die Lokaljournalisten Kayla und Micah gegen die Polarisierung ankämpfen - 3. November 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos