Kommentar / Argentinien: Minister Massa besiegt die „Kettensäge“
„Massazo“, schrieb die in Buenos Aires erscheinende Tageszeitung Página/12 am Montag nach den argentinischen Präsidentschaftswahlen und spielte dabei auf das Wort „Golazo“ für ein besonders spektakuläres Tor beim Fußball an. Zwar hat sich kein Kandidat im ersten Wahlgang entscheidend durchsetzen können, sodass eine Stichwahl am 19. November nötig ist. Dennoch hat Wirtschaftsminister Sergio Massa vom peronistisch dominierten Mitte-links-Regierungsbündnis Unión por la Patria mit 36,7 Prozent der Wählerstimmen für einen überraschend deutlichen Sieg gesorgt und sich daher die Nachsilbe „azo“ verdient.
Der zuletzt als Favorit gehandelte ultrarechte Anarcho-Kapitalist Javier Milei kam mit 30 Prozent nur auf den zweiten Platz. Ex-Ministerin Patricia Bullrich von der liberalkonservativen Oppositionsallianz Juntos por el Cambio wurde mit 23,8 Prozent Dritte und verpasste den zweiten Wahlgang. Von den 35,4 Millionen Wahlberechtigten waren 78 Prozent (bei Wahlpflicht) an die Urnen gegangen. Der durch seinen Erfolg bei den Vorwahlen im August zum populistischen Shootingstar erklärte und als argentinischer Bolsonaro und Trump bezeichnete Milei versuchte, seinen Rückschlag schönzureden, und deutete an, dass in der zweiten Runde zwei Modelle zur Wahl stünden: Freiheit und Populismus.
Mit Letzterem meint er nicht etwa seinen eigenen Brachial-Populismus und seine Partei La Libertad avanza – dabei trat Milei im Wahlkampf nicht nur mit einer Kettensäge auf, sondern kündigte im Falle seines Sieges unter anderem die Zerschlagung der Zentralbank, die Abschaffung mehrerer Ministerien, die Dollarisierung der Wirtschaft und radikale Kürzungen im Sozialhaushalt an. Zudem sprach er sich gegen das Recht auf Abtreibung und für einen leichteren Zugang zu Waffen aus. Als Populisten bezeichnet er die regierenden Peronisten von Präsident Alberto Fernández und Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner.
Für die Stichwahl spekuliert Milei auf die konservativen Anhänger von Bullrich. Deren Bündnis droht zu zerbrechen: Die einen – Anhänger der Partei PRO von Ex-Präsident Mauricio Macri – könnten sich für Milei entscheiden, die anderen, von der sozialdemokratisch orientierten Unión Cívica Radical, der ältesten noch existierenden Partei des Landes, könnten sich Massa anschließen. Letzterer zeigte sich mäßigend und staatsmännisch. Er versprach, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Zwar konnte die Regierung, der er als Wirtschaftsminister angehört, die galoppierende Inflation nicht stoppen. Aber er verspricht Stabilität und Berechenbarkeit. Mit ihm dürfte Argentinien auch für Europa ein seriöser Partner bleiben.
- Teufelspakt: EVP einig mit Rechtsextremen - 19. November 2024.
- Der schlafende Riese – Zwischen Aufbruch und neuen Abhängigkeiten - 18. November 2024.
- Unter Strom: Höchstspannungsleitung an deutsch-luxemburgischer Grenze nimmt Konturen an - 12. November 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos