Kommentar / Das Kettensägenmassaker: Argentinien nach dem Wahlsieg von Javier Milei
Es ist wie in einem Horrorfilm: Man glaubt, alles sei nur ein Albtraum, wacht schweißgebadet auf – und erkennt, dass der Traum Wirklichkeit geworden ist. Javier Milei hat die Präsidentschaftswahl in Argentinien mit 55,76 Prozent der Wählerstimmen deutlich vor dem peronistischen Wirtschaftsminister Sergio Massa mit 44,23 Prozent gewonnen. Im Wahlkampf hat der ultrarechte, selbsternannte „Anarchokapitalist“ eine radikale Kehrtwende in der argentinischen Politik angekündigt: Er will den US-Dollar als gesetzliches Zahlungsmittel einführen, die Zentralbank sowie einige Ministerien abschaffen und die Sozialausgaben kürzen. Bei Auftritten vor seiner Anhängerschaft trat er in den vergangenen Wochen und Monaten häufig mit einer Kettensäge auf. Sie ist zu seinem Symbol geworden. Denn während der Regierungskandidat Massa für die bisherige Politik mit massiven Eingriffen des Staates in die Wirtschaft und umfangreichen Sozialprogrammen stand, bevorzugt Milei den Kahlschlag als Lösung.
Im ersten Wahlgang am 22. Oktober lag Massa noch vorn. Ausschlaggebend für Mileis Triumph in der Stichwahl, darin sind sich die Analysten einig, ist die Unterstützung der in der ersten Runde drittplatzierten Patricia Bullrich vom konservativen Bündnis Juntos por el Cambio des Ex-Präsidenten Mauricio Macri. Die als rechte Hardlinerin bekannte frühere Ministerin war öffentlich an Mileis Seite zu sehen. Bullrich, Macri, Milei – sie stehen nicht zuletzt für all jene Argentinier, die den Peronismus hassen und ihn als größte Seuche verabscheuen, die das Land jemals erfasst hat. Sicherlich hat die auf den einstigen Präsidenten Juan Domingo Perón und seine Frau Evita Perón zurückgehende Massenbewegung die argentinische Politik und Gesellschaft jahrzehntelang geprägt. Auch stand sie für Korruption, Klientelismus und Vetternwirtschaft.
Andererseits haben gerade die linksperonistischen Regierungen von Néstor und Cristina Kirchner und Alberto Fernández Argentinien reformiert. Sie haben das Land nach der Wirtschaftskrise und Staatspleite 2001 wieder aufgebaut, gesellschaftliche Reformen – unter anderem gleichgeschlechtliche Ehe und Legalisierung von Abtreibung – durchgeführt und die aktive Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen während der Militärdiktatur (1976-1983) sowie eine im internationalen Vergleich vorbildliche Erinnerungskultur betrieben. Und nun soll alles rückgängig gemacht werden? Oder wie die Tageszeitung Página|12 schreibt: „Cuando el futuro está en el pasado.“ (Wenn die Zukunft in der Vergangenheit liegt.) Dafür steht Mileis zukünftige Vizepräsidentin Victoria Villaruel, die Tochter eines Offiziers, der während der Diktatur agierte. Sie zieht nicht nur die von Menschenrechtsorganisationen wie den berühmten Madres de Plaza de Mayo angegebene Zahl von 30.000 Todesopfern des Regimes in Zweifel, sondern streitet für die Anerkennung der Opfer linker Guerillagruppen wie der peronistischen Montoneros. Wie in anderen Ländern Südamerikas, etwa Chile, haben jene, die die Diktaturen verharmlosen, an Boden gewonnen. Das Rad der Zeit droht, zurückgedreht zu werden.
Kaum jemand vertritt in Wirtschaftsfragen so extreme Ansichten wie Milei. Er will zudem den Waffenbesitz liberalisieren, das Recht auf Abtreibung wieder abschaffen, stellt den menschengemachten Klimawandel in Frage und nennt den argentinischen Papst einen Kommunisten. Er wettert gegen die politische „Kaste“, aus der aber nicht zuletzt seine Steigbügelhalter Macri und Bullrich stammen. Zugleich profitierte er als Nutznießer einer endlos scheinenden Wirtschaftskrise, einer Inflation von mehr als 140 Prozent und einer grassierenden Armut. Wie die Argentinier 2001 „¡Que se vayan todos!“ riefen, soll nun der Peronismus zum Teufel gejagt werden.
Dem hatten die Peronisten kaum noch etwas entgegenzusetzen. Sie erleben eine der größten Niederlagen ihrer fast 80-jährigen Geschichte. Allerdings dürfte auch Milei es schwer haben, seine radikalen Ankündigungen in die Tat umzusetzen. Ihm fehlt nicht nur eine Mehrheit im Parlament. Dagegen hat er mit Axel Kicillof, dem Gouverneur der Provinz Buenos Aires und einem „Überlebenden“ der Kirchner-Ära, einen mächtigen Gegenspieler. Auch können ihm die Peronisten aufgrund ihrer Verankerung in den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen das Leben schwer machen. Sie haben schon oft bewiesen, dass sie mit Protesten und Streiks das öffentliche Leben zum Stillstand bringen können.
Auch ist einiges, was er ankündigte, nicht ganz neu. So gab es in den 90er-Jahren unter dem peronistischen Präsidenten Carlos Menem schon eine 1:1-Anbindung des Pesos an den Dollar. Auch ist es – nach der Diktatur sowie den Amtszeiten von Menem und Macri – schon der vierte Anlauf, den Neoliberalismus in Argentinien anzuwenden. Alle Versuche scheiterten krachend. Trotzdem umgibt sich Milei mit der Aura des Unbesiegbaren. Doch ähnelt er auch Bertolt Brechts „Arturo Ui“, dessen Aufstieg bekanntlich aufhaltsam war. Wegen seiner obskuren Ansichten und Gewohnheiten hat ihn sein Biograf, der Journalist Juan Luis González, als „El Loco“ (der Verrückte) bezeichnet. Gewählt haben ihn nicht nur die Desillusionierten und Zu-kurz-Gekommenen, vor allem auch die Jugend. Eine Gratulation ist besonders erwähnenswert: Der frühere US-Präsident Donald Trump erklärte, er sei stolz auf Milei. Dieser werde Argentinien wieder groß machen. Trump, Jair Bolsonaro und Milei – ein Trio wie aus einem schlechten B-Movie. Ein Albtraum oder nur ein Vorgeschmack? Vor allem eines: Heute weine ich um dich, Argentinien!
- Teufelspakt: EVP einig mit Rechtsextremen - 19. November 2024.
- Der schlafende Riese – Zwischen Aufbruch und neuen Abhängigkeiten - 18. November 2024.
- Unter Strom: Höchstspannungsleitung an deutsch-luxemburgischer Grenze nimmt Konturen an - 12. November 2024.
Wie kann man den Culot haben bei einer Infaltionsrate von 140 % den amtierenden Wirtschaftsminister ins Rennen zu schicken ?
@fräulein smilla/ wie kann man nach all dem Nonsens von Meisch denselben wieder in dieselbe Verantwortung setzen?
„Es ist wie in einem Horrorfilm:“
Hüte dich vor den Gezeichneten…
Et ass net gutt, wann eng Partei‘ ze lang um Rudder ass.
Eng gesond Demokratie oscillei’ert no un der Mett. Extrem lenks oder riets ass net gesond.
An Argentinien waren di Lenk Sozialos ze laang do an hun d’Land an seng Wirtschaft zu gronn geriicht !