Die Europameisterschaft, das nicht nur von den deutschen Gastgebern, sondern von der ganzen internationalen Fußball-Community krampfhaft herbeigesehnte, aber verhinderte Sommermärchen, neigt sich dem Ende zu. Die Belegschaft dünnt sich aus, die Schotten sind längst raus, die albanischen Doppeladler ebenso, die Belgier mit ihrem nicht mehr so glänzenden Überbleibsel der goldenen Generation sowieso. Verhindert wurde das Märchen nicht nur meteorologisch, weil es die Älteren unter den Aficionados nicht an 2006, sondern an die Wasserschlacht von Frankfurt 1974 erinnerte. Diesmal war es der Wolkenbruch von Dortmund. Verhindert wurde der Deutschen liebstes Märchen mit dem unglücklichen Ausscheiden ihrer endlich glänzend aufgelegten und bisweilen toll aufspielenden Mannschaft im Viertelfinale. Die Mannschaft um König Kroos, Kimmich, Gündogan, Rüdiger, „Lücke“ Füllkrug und „Wusiala“ zeigt endlich wieder eine technisch anspruchsvolle Einheit mit Kampf- und Teamgeist, die auch die Fans begeistert. „Das neue Wir“ titelte das Fachblatt Kicker über die Nagelsmänner.

Das Geschehen auf dem Rasen selbst wird bis auf Ausnahmen wie etwa Spanien – Deutschland oder Niederlande – Österreich wenig denkwürdig bleiben. Italien hat das Fußballspielen verlernt, Frankreich und England bekamen es ausgetrieben. Die Azzurri befinden sich im Selbstfindungsprozess, die sonst brillante Équipe tricolore ließ sich von ihrem Rasen-Napoleon, dem Feldherrn Deschamps, zu Minimalisten degenerieren, Englands Stars schienen von Gareth Southgate eine Überdosis Valium verabreicht bekommen zu haben.

Zwischendurch gab’s echte Lichtblicke: der ewige Talentschuppen der Portugiesen mit ihren Rentenverweigerern CR7 und Pepe, das von Maestro Rangnick dirigierte Wiener Sinfonieorchester, die eidgenossenschaftliche Geschlossenheit um den genialen Granit Xhaka und die Elftal um Gakpo, Weghorst und van Dijk, die sich als Turniermannschaft outete. Besonders wertvoll machte die EM aber die Furia Roja der Spanier. Die geniale Truppe, auch auf der Bank gleichwertig besetzt, kann alles, selbst Handspiel mit Maradonas Segen, aus einem Guss und mit den zwei Wunderknaben Lamine Yamal und Nico Williams. Also doch ein Märchen?

• Über
• Letzte Artikel

Stefan Kunzmann

Nach dem Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Literatur in München war der Baden-Württemberger zuerst am Theater tätig. Danach arbeitete er in Südamerika, von wo er für verschiedene deutsche Tageszeitungen berichtete. Seit 1998 ist Stefan Kunzmann hauptberuflich Journalist, zuerst für das Badische Tagblatt, ab 2002 in Luxemburg zunächst für die woxx, dann 18 Jahre lang für die Revue, deren Chefredakteur er von 2017 bis 2023 war, und seit 2023 fürs Tageblatt.

Letzte Artikel von Stefan Kunzmann (Alle anzeigen)

• Teufelspakt: EVP einig mit Rechtsextremen - 19. November 2024.
• Der schlafende Riese – Zwischen Aufbruch und neuen Abhängigkeiten - 18. November 2024.
• Unter Strom: Höchstspannungsleitung an deutsch-luxemburgischer Grenze nimmt Konturen an - 12. November 2024.