Kinowoche / „C’è ancora domani“ von Paola Cortellesi: Kitchen sink all’italiana
Keine anderen Filme beschäftigten das italienische Kinopublikum in den letzten zwölf Monaten so wie diese beiden: „Io capitano“ von Matteo Garrone und „C’è ancora domani“ von Paola Cortellesi. Während Ersterer seit seiner Premiere in Venedig letztes Jahr und mit seiner Flüchtlings-Thematik ziemlich schnell unmittelbare Reaktionen hervorrief, hatte Cortellesis Film wenigstens in Italien den gleichen, sogar noch größeren Erfolg beim Publikum. Über vier Millionen Menschen gingen für dieses Familiendrama ins Kino – mehr als für die beiden Filme hinter dem „Barbenheimer“-Phänomen. „C’è ancora domani“ hat in Italien einen gesellschaftlichen Nerv getroffen, der nicht von der Hand zu weisen ist.
Das Regiedebüt der Schauspielerin Paola Cortellesi, die im Film auch die Hauptrolle übernimmt, setzt im Rom der frühen Nachkriegszeit an. Dort lebt ihre Figur Delia mit ihrem Mann, ihrer ältesten Tochter, ihren zwei rabiaten kleinen Söhnen und ihrem bettlägerigen Schwiegervater in einer Untergeschosswohnung. Die finanziellen Verhältnisse der Familie sind bescheiden. Alle versuchen, im Trubel der Nachkriegszeit zu überleben. Delia lebt jedoch ihren ganz privaten Krieg weiter, wie die ersten Sekunden des Films zu verstehen geben. Während sie noch schläft, sitzt ihr Mann morgens schon im Bett. Als sie erwacht und ihn grüßt, gibt er ihr sogleich eine fette Ohrfeige. Diese plötzlichen Gewaltausbrüche gehören zu Delias Tagesordnung. Oft reicht es, dass sie etwas fallen lässt oder ihm nur ein kleines bisschen widerspricht, damit er Schläge austeilt.
Delia hat aber noch andere Sorgen. Ihre Tochter Marcella ist schwer verliebt und es wird nicht lange dauern, bis ihr Freund um ihre Hand anhalten wird. Und dann erhält sie von der Haushälterin eines Tages einen mysteriösen Brief. Ein Brief, der nicht an ihren Mann oder die Familie, sondern an sie alleine adressiert ist. Einmal den Brief aufgemacht und durchgelesen, versteckt ihn Delia gleich wieder. Aber etwas passiert mit ihr: Sie hat weniger Angst, ihrem Mann Paroli zu bieten und wagt es, sich Gedanken über ihre Zukunft zu machen.
„C’è ancora domani“ klingt wie ein hoffnungsvolles Nach-vorne-Schauen in eine bessere Zukunft. Tatsache ist aber, dass knapp drei Wochen nach Kinostart Italien von Giulia Cecchettins Feminizid erschüttert wurde. Der Mord an der 22-Jährigen löste einen kathartischen Moment in Italien aus, der sich in großflächig angelegten Demonstrationen manifestierte. Der Film von Paola Cortellesi kam auf traurige Weise zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen Ort. Das eine nährte das andere und „C’è ancora domani“ war am Ende der größte Kinoerfolg des Jahres 2023.
Ein starker Eindruck
Paola Cortellesi ist in unseren Breitengraden dem großen Publikum kein Begriff, aber sie hat über lange Jahre eine konsequente Schauspielkarriere hingelegt. Nichtsdestotrotz bleibt ihr Film unabhängig seiner Rezeptionsumstände von Interesse. Sie weigert sich ab der Eröffnungsszene im Bett und der morgendlichen Ohrfeige, ihr Familiendrama exklusiv im Naturalismus schwelgen zu lassen. Eine spätere Gewaltszene wird sogar wie eine Musicalnummer inszeniert. Das würde nicht im englischen Sozialdrama und schon gar nicht im italienischen sogenannten Neorealismus passieren. Aber es sind diese kleinen Momente, die Cortellesi immer wieder in ihren Film einwebt, die aus „C’è ancora domani“ unverhofft eine überraschende Kinoarbeit machen.
Oft sind die Grenzen zwischen selbstbewusstem Kammerstück und einem kleinen Fernsehspiel zwar nicht ganz klar und der Film wird dem italienischen Kino ganz bestimmt nicht die lang ersehnte Erneuerung verpassen, die es schon lange bräuchte, aber ihr in Schwarz-Weiß-Bilder getauchtes Debüt strahlt die Notwendigkeit einer Filmemacherin aus, diese Geschichte erzählen zu müssen. Wenn der Film sich manchmal in seinen zu leichten Momenten verliert, hinterlässt das Filmende einen starken Eindruck und beweist, dass Cortellesi sich nicht damit zufriedengibt, eine einfache Geschichte einer individuellen Frau zu erzählen. Und dass so ein Film im Macho-Italien unter Meloni und Feminiziden Diskussionen auslöst, kann eigentlich nur für die Sache sprechen.
„C’è ancora domani“ von Paola Cortellesi, mit u.a. Paola Cortellesi, Valerio Mastandrea und Romana Maggiora Vergano, zu sehen in den Kinepolis-Multiplexkinos.
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