/ Angst vor der Fiktion: Wieso die Qualität bei Wettbewerbsfilmen abnimmt
Die Presse ist sich einig: Das Niveau der Wettbewerbsfilme auf der diesjährigen Berlinale war äußerst schwach. Die Jury zeichnete glücklicherweise noch die besten Beiträge aus – „Synonymes“ ist formal und erzählerisch einer der innovativsten Filme des Wettbewerbs und Ozon fand die richtige Filmsprache, um ein delikates Thema zu behandeln –, einen Geniestreich sucht man aber auch unter den prämierten Filmen vergebens.
Dabei handelte es sich um Kosslicks Abschiedsauflage – weswegen der Kurator wohl viele alte Bekannte einlud, die es aber nicht vermochten, den Eindruck einer vielfältigen, frischen Kinoszene zu vermitteln. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig: Es mag sein, dass Kosslicks Vertrauen auf Altbewährtes für eine blutarme Auswahl gesorgt hat, weil eine zu große Familiarität und Expertise oft zu Routine führt.
Based on a true story
Es könnte auch sein, dass die Berlinale im Februar – also sehr kurz vor der Oscar-Verleihung – nur sehr wenige interessante Filme an Land zieht, weil das Timing unglücklich ist, die interessantesten Filme bereits in Cannes und Venedig (siehe z.B. „The Favourite“) vorgestellt wurden und man nun das Ende der großen Zeremonie abwartet, um die tollen Produktionen auf den darauffolgenden Festivals zu zeigen. Dies alleine erklärt aber nicht, wieso diese 69. Auflage qualitativ deutlich hinter der vom letzten Jahr zurückfällt.
Betrachtet man die Wettbewerbsfilme, fällt einem vor allem eine Gemeinsamkeit auf: Die Angst vor der Fiktion. Ständig wird in Filmen darauf aufmerksam gemacht, dass das Gezeigte auf wahren Begebenheiten beruht – sei es die Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen im konservativen Spanien („Elisa y Marcela“), der Bandenkrieg in Neapel („La paranza dei bambini“), ein Pädophilie-Fall innerhalb der katholischen Kirche („Grâce à Dieu“) oder der Aufstieg eines republikanischen Politikers („Vice“). Stets poppen die üblichen Disclaimer wie nervige Cookies auf Internetseiten auf, es scheint wahnsinnig wichtig, zu belegen, dass das Gezeigte auch passiert ist, als würde man in den Zeiten von Fake News und Relotius ein Misstrauen der Fiktion gegenüber empfinden. Ein solches Misstrauen ist äußerst besorgniserregend ist, weil gerade das Kino es doch erlaubt, die Zügel der Wirklichkeitsdarstellung zu lockern. Wer ins Kino geht und sich nicht gerade einen Dokumentarfilm anschaut, geht davon aus, dass die Geschehnisse zumindest teilweise erfunden sind – weswegen ja auch immer betont werden muss, falls dann etwas „wirklich“ passiert ist. Nun stellt man fest, dass der berühmte Disclaimer, der besagt, dass alle Ähnlichkeiten eines Filmes zur Wirklichkeit rein zufällig sind, immer mehr durch die Behauptung, alles sei wahr und überprüft, ersetzt wird.
Der Wirklichkeit hinterher hecheln
Dabei sind es fiktionale Situationen im Kino oder in Büchern, die es uns erlauben, die Wirklichkeit zu transzendieren, sie mit möglichen Szenarien zu vergleichen, ihr eine Gewichtigkeit zu geben, die sie ohne die möglichen Welten der Fiktion gar nicht erst hat. Milan Kundera berief sich auf das Sprichwort „Einmal ist keinmal“, um zu zeigen, dass die Wirklichkeit immer deswegen unwirklich ist, weil sie eben nur einmal stattfindet.
Die Fiktion erlaubt es, das Geschehene durch imaginäre Situationen zu erweitern. Weswegen es schön ist, dass „Synonymes“ den Goldenen Bären bekam – hier werden die persönlichen Erlebnisse des Regisseurs zu einem überspannten, teilweise urkomischen Streifen verarbeitet, der durch seine Wirklichkeitsentstellung Themen wie Identität, Verfremdung und Zugehörigkeit in markierenden Sequenzen darstellt.
Die Filme der Berlinale sind deswegen blass, weil sie der Wirklichkeit hinterherlaufen, anstatt sie zu antizipieren, weil sie das Geschehene kopieren, anstatt es aus einem anderen, fiktionalen Blickwinkel zu beleuchten.
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