Kunstecke / Erlebnisreise in 52 Etappen und drei Museen: Zum Roman „Les yeux de Mona“ von Thomas Schlesser
Michel Guerrin von „Le Monde“ spricht vom „Mona-Phänomen“, einem Roman, der seit seinem Erscheinen Ende Januar die Leser in 60 Ländern und in 32 Sprachen übersetzt sozusagen in der ganzen Welt im Sturm erobert hat. Was macht den Erfolg aus: Ist es die dramatische menschliche Geschichte um ein zehnjähriges Mädchen, das riskiert, in einem Jahr sein Augenlicht zu verlieren, oder sind es die lehrreichen Entdeckungsbesuche in den Pariser Museen Le Louvre, d’Orsay und Centre Pompidou? Der Roman „Les yeux de Mona“ ist bei Albin Michel publiziert und umfasst 496 Seiten, Einband mit 52 Kunstreproduktionen ausgeklammert.
„Kinder erklären Kunst“, überschreibt das Kunstmagazin ART eine Rubrik, in der Kinder Bilder und weitere Kunstgegenstände erläutern und auslegen. Die Lektüre dieser Seite öffnet selbst dem Kunstinteressierten manchmal die Augen, sehen und empfinden Kinder in ihrer Art, Kunst anzugehen, sicher anders als Erwachsene, die, geprägt von der mühsam erfassten und halb verdauten Kunstgeschichte, Bilder und andere Werke wohl ganz persönlich interpretieren. Die Zeilen der Kinderanalysen sind manchmal aufschlussreich, dann aber zu simpel, je nachdem. In dem Buch erleben wir beides: die Sicht eines Kindes und die sachlichen Erklärungen des Experten.
Kunstgeschichtler, Kurator und Autor Thomas Schlesser steht mit seinen 46 Jahren in der Mitte des Lebens. Er kann zahlreiche Essays, einige Bücher in Sachen Kunst und einen 2004 mit dem „Point de mire“-Preis ausgezeichneten Roman „La Vierge maculée“ vorweisen. Er leitet aktuell die Fondation Hans Hartung-Bergman und lehrt an der „Ecole polytechnique“ in Frankreich. Mit „Les yeux de Mona“ erzählt er die Geschichte der kleinen Mona, die an einer seltenen Krankheit leidet und möglicherweise in naher Zukunft erblinden könnte. Sie ist in ärztlicher Behandlung und soll zusätzlich jeweils mittwochs einen Spezialisten aufsuchen, der ihr Leiden lindern und eine Piste zur Gesundung ausloten soll. Weil die Eltern beruflich überfordert sind, überlassen sie Opa Henry die Kleine, um diese einmal pro Woche zu besagtem Spezialisten zu bringen. Da Mona keine echte Lust auf diesen Termin verspürt und Opa Henry ihr die Augen öffnen und die Schönheiten der Kunstwelt zeigen möchte, führt er sie jeden Mittwoch in ein Museum und zeigt ihr jeweils ein einziges Kunstwerk.
Gliederung nach Museen und Werken
Durch den Aufbau des Buches und die feinfühlige Erzählweise gelingt es dem Autor, das Schicksal der Familie von Mona, die tragische Wende im Dasein des Opas und das Leben der kleinen Mona mit ihrer Krankheit, ihren Gefühlen und ihrer Hoffnung auf ein Licht am Ende des Tunnels sensibel und wortgewaltig mit philosophischer Untermalung zu schildern. Zugleich lässt er die Kunstgeschichte recht plastisch Revue passieren. Jeder Buchteil ist einem Museum gewidmet, jeweils in so viele Kapitel unterteilt, wie Kunstgemälde in diesem Haus zu Ehren kommen. Jedes Kapitel gliedert sich wiederum in eine Einführung rund um die Gesundheit des kleinen Mädchens und der Familie, eine sachliche Beschreibung des betreffenden Bildes und eine Einschätzung durch Mona, neben einer ausgeprägten Analyse des anvisierten Kunstobjektes.
Drei Museen sind vertreten: Zunächst Le Louvre mit 19 Etappen, von Botticelli und Leonardo da Vinci mit „Mona Lisa“ über Rembrandt und Frans Hals (derzeit ganz aktuell mit einer großen Retrospektive) über Vermeer und Poussin bis hin zu Caspar David Friedrich (momentan in Hamburg gefeiert) und William Turner. Das Musée d‘Orsay ist mit 14 Bildern von u.a. Courbet, Manet, Monet, Degas, Cézanne, Van Gogh, Klimt und Mondrian repräsentiert. Das dritte Museum im Bunde ist Beaubourg mit 17 Stationen, die von Kandinsky, Duchamp, Malewitsch und Magritte über Picasso, Pollock, Niki de Saint Phalle, Hans Hartung und Jean-Michel Basquiat bis hin zu Louise Bourgeois, Marina Abramović und Christian Boltanski reichen, wobei das in der letzten Woche gesehene Bild vom kürzlich verstorbenen Meisters des „outre-noir“ Pierre Soulages stammt. Ein letztes Kapitel, das der kleinen Mona und ihrem kunsthistorisch so geschulten und menschlich so einfühlsamen Opa Henry Gelegenheit bietet, zu unterstreichen, dass „Schwarz eine Farbe ist“ und man in den Bildern von Soulages vieles herauslesen kann, das ein ungeübtes Auge nicht auszumachen vermag.
Für den Leser bilden die Konfrontationen von Opa und Mona mit Bildern so unterschiedlicher Natur wie denen von Rembrandt oder Vermeer einerseits und Piet Mondrian und Malewitsch andererseits eine wahre Quelle an Informationen, An- und Einsichten sowie einen Beleg dafür, wie faszinierend die Sicht eines Kindes auf diverse Perioden der Kunstgeschichte sein kann. Es ist bemerkenswert, wie zeitgenössische, manchmal extravagante Künstler wie Marina Abramović mit ihren Performances und in diesem Fall einer Installation mit drei Elementen auch Uneingeweihte ansprechen können, wenn diese bereit sind, sich auf das Kunstwerk einzulassen, es am „ganzen Körper“ zu spüren. Monas Lehrmeister spielt sich hierbei nicht als solchen auf, vielmehr versucht mit viel Geschick und vor allem Sinn für die Vermittlung von Zeitgeist und Entwicklung der Kunstströmungen in den letzten Jahrhunderten der kleinen Mona das Kunstschaffen großer Meister und anderer, teils durch die Logik der Kunstmärkte mit ihren Modetrends in den Vordergrund gespülten Künstler weiterzugeben.
Schilderung, Analyse und Interpretation
Praktisch für den Leser ist die Tatsache, dass das Cover des Buches Fotos der 52 angesprochenen Kunstwerke, ob Bilder, Skulpturen oder Installationen, zeigt, sodass man bequem den Austausch der beiden Protagonisten und die Beschreibung des Dargestellten verfolgen und vergleichen kann. Autor Thomas Schlesser legt übrigens viel Wert auf die Schilderung des Sichtbaren der zu dieser Auswahl vereinten Kunstwerke.
Für Opa Henry ist die Reise in 52 Etappen ein Erlebnis, nach einem wechselhaften Leben und dem tragischen Tode seiner Frau – dies erlaubt dem Autor auch eine Digression zum derzeit delikaten Euthanasie-Thema in Frankreich – und in Erkenntnis, dass die Kunst neben ihrer Auseinandersetzung mit schwierigen Themen auch viel Schönes beinhalten und ausstrahlen kann. An der Vorstufe einer möglichen Negativ-Entwicklung, einem tragischen Schicksalsschlag, soll Mona die Schönheiten in 52 Kunstwerke verpackt erleben. Opa Henry wird für sie zum Leuchtturm einer neuen Lebensphilosophie.
Die Geschichte ist spannend und abwechslungsreich erzählt, die Diskussionen zwischen Opa Henry, von ihr „Dadé“ genannt, und der kleinen Mona über die Kunstwerke, die einzelnen Künstler und deren Überzeugungen, aber auch Stellungen zu Lebenszeiten sind kontrovers, aber fair und stets sachlich, so wie man es sich allgemein wünschen täte. Egal, an welchem Aspekt dieses Buches man interessiert sein mag, ob Erzählung oder Kunst, man begibt sich auf eine faszinierende Erlebnisreise in 52 Etappen durch drei Pariser Museen.
Infos
„Les yeux de Mona“ von Thomas Schlesser
Albin Michel
496 Seiten und 52 Fotos von Meisterwerken aus den Museen Le Louvre, d’Orsay und Centre Pompidou
- Nach Unwettern: Wetter bleibt sehr wechselhaft - 4. Mai 2024.
- Polizei schnappt Dealer und betrunkenen Fahrer - 4. Mai 2024.
- Cattenom: Block 1 abgeschaltet, um „Brennstoff einzusparen“ - 4. Mai 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos